Materialien 1973

Diskussion ist Gewalt!

„Der Angeklagte hat sich eines Vergehens der Nötigung nach § 240 StGB schuldig gemacht, weil er die Zeugin Professorin Dr. Ute Gruber rechtswidrig mit Gewalt zum Abbruch der Vorlesung gezwungen hat.“ Die „Verhängung einer Geldstrafe von 600,- DM, ersatzweise einer Freiheits-
strafe von 30 Tagen erscheint … tat- und schuldangemessen“ (alle Zitate aus der Urteilsbegrün-
dung).

Bei Gewalttaten sind 600,- DM eigentlich nicht viel, könnte man meinen. Ein wildgewordener Lin-
ker hindert die arme Frau Professorin mit Gewalt am Abhalten der Vorlesung, das muß bestraft werden. Was aber dort als Gewalt bezeichnet wird, war nichts anderes als der Versuch, in der ersten Aktionswoche gegen das BHG im Mai 1972 eine Diskussion über dieses Gesetz in der Vorle-
sung „Theorie und Politik des Lohn“ zu initiieren. Die Gewalt bestand – so das Urteil – näher in folgendem Sachverhalt:

„Der Angeklagte handelte mit dem Vorsatz, die Durchführung der ordnungsgemäßen Vorlesung zu verhindern, und stattdessen über das Hochschulgesetz zu diskutieren und auf die Professorin ein-
zuwirken, daß diese an der Diskussion teilnehme.“ … Dabei war zu gunsten des Angeklagten „zu berücksichtigen, daß sich die Diskussion in einem ruhigen und sachlichen Ton abgespielt hat“.

Die Gewalt, die Genosse Kreuzhage ausgeübt hat, bestand also darin, daß er, trotz des Ansinnens der Professorin die Vorlesung zu halten, vor dem Auditorium eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem BHG für notwendig hielt, die sich nicht nur auf fünf Minuten beschränken sollte, und dabei „versuchte, die Professorin in die Diskussion hineinzuziehen“.

Es geht nun nicht darum, legalistisch zu argumentieren (das wird schon durch einen Revisions-
antrag versucht). Was an dem Urteil deutlich wird, ist das politische Reagieren der Strafjustiz, die eine Diskussion, die gegen den Willen des jeweiligen Dozenten geführt wird, als Gewalt bezeichnet, was in anderer Situation höchstens als Lappalie niedergeschlagen wird. Konsequent mit dem Hirn eines Staatsanwaltes gedacht, ist dann jede Auseinandersetzung in einer Lehrveranstaltung, sei es über das BHG oder über den Lehrstoff, gegenüber dem Dozenten Gewalt, wenn dieser sich dadurch genötigt fühlt. Die Willkürlichkeit dieser Feststellung wird hier offenkundig. Genau die Situation, die mit dem Ordnungsrecht von uns immer als die Regel bezeichnet wurde, ist also nicht – wie die Ordinarien behaupten – an den Haaren herbeigezogen; sie ist in diesem Fall mit 600,– DM Strafe als Resultat schon ganz real geworden.

Nicht daß wir uns darüber wundern oder empört sind; was hier deutlich wird, ist das Verhalten der bürgerlichen Strafjustiz gegenüber Tätern, die nur im Zusammenhang sozialistischer Politik als solche erscheinen (vgl. dazu die genauere Argumentation zum Pohle-Prozeß in dieser MSZ Nr. 7). Natürlich kann das nicht Grundlage für ein juristisches Urteil sein; Nötigung steht hier für einen Sachverhalt, den zu bestrafen Staatsanwalt Lancelle als guter Staatsbürger immer schon für not-
wendig hält: sozialistische Politik. Eine Frage zur Person macht das nur zu deutlich – der Staats-
anwalt: „Herr Kreuzhage, sie sind doch Konventsmitglied der LFB/RZ-Fraktion?“ Das feine Lä-
cheln auf die bejahende Antwort des Gen. Kreuzhage braucht nicht weiter kommentiert zu werden.


MSZ. Münchner Studentenzeitung 7 vom 2. November 1973, 10.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: StudentInnen