Flusslandschaft 1950
Gewerkschaften/Arbeitswelt
Das Motto des DGB zum Ersten Mai lautet: »Ruf der Gewerkschaften an alle Arbeiter, Angestellten und Beamten.« Im Aufruf des DGB heißt es: „Die Trümmer in unseren Städten, die Not und das Elend unserer Flüchtlinge und Arbeitslosen sind einzig und allein die Folgen der Kriege, der Dikta-
tur und jener Wirtschaftsordnung, die uns die feudalen und die kapitalistischen Kräfte in Jahrhun-
derten aufzwangen. Diese Kräfte zerstörten immer wieder, was die arbeitenden Menschen unter Entbehrungen an Wohlstand geschaffen haben.“1
„… Die Wiedereinführung einer wirklich freien Marktwirtschaft bedeutete nun die Übergabe der Fabriken und der Kontrolle des Wirtschaftslebens an jene, die, wenn auch ein wenig im Irrtum über die letzten Konsequenzen des Nazismus, in jeder praktischen Hinsicht doch stramme Anhän-
ger des Regimes waren. Auch wenn sie unter den Nazis nicht über sehr viel wirkliche Macht verfüg-
ten, so hatten sie doch alle Annehmlichkeiten des Status genossen, und das ungeachtet dessen, ob sie gleichzeitig Parteimitglied waren. Seit Kriegsende haben sie gemeinsam mit der fast unbe-
schränkten Macht über das Wirtschaftsleben auch ihre alte Macht über die Arbeiterklasse wieder-
gewonnen, d.h. über die einzige Klasse in Deutschland, die, obwohl sie die Staatsintervention als Sicherheit gegen Arbeitslosigkeit begrüßte, niemals aus vollem Herzen nazistisch war. Mit ande-
ren Worten wurde zu der Zeit, wo Entnazifizierung die offizielle Parole der alliierten Politik in Deutschland war, die Macht Leuten übergeben, deren Nazisympathien dokumentiert waren, und zugleich denen genommen, deren Unzuverlässigkeit bezüglich der Nazis die einzige etwas belegte Tatsache in einer ansonsten fluktuierenden Lage war. – Um die Dinge noch schlimmer zu machen, wurde die Macht, die den Industriellen zurückgegeben wurde, sogar noch von der schwachen Kon-
trolle befreit, die es in der Weimarer Republik gab. Die Gewerkschaften, die die Nazis beseitigt hatten, wurden nicht wieder in ihre alte Position eingesetzt, z.T. deswegen, weil ihnen kompetentes Personal fehlte, z.T. aber auch, weil sie antikapitalistischer Überzeugungen verdächtigt wurden; die Bemühungen der Gewerkschaften, ihren früheren Einfluss über die Arbeiter wiederzugewinnen, scheiterten kläglich mit dem Ergebnis, dass sie bis heute auch noch das geringe Selbstvertrauen verloren haben, das sie in Erinnerung an frühere Zeiten geerbt hatten …“2
Siehe auch „Nazis“.
1 Siehe die Fotos vom „ersten mai“ von Walter Nürnberg.
2 Hannah Arendt: Besuch in Deutschland, 1950 – Nachwirkungen des Nazi-Regimes“, veröffentlicht unter dem Titel „The Aftermath of Nazi Ruele. Report from Germany“ in Commentary 10/1950, zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht in: Befreiung. Zeitschrift für Politik und Wissenschaft 26 vom Dezember 1982, 30.