Flusslandschaft 1984

Kinder

17. Februar: Demonstration für den Erhalt der fünf Kindergärten der Arbeiterwohlfahrt (AWO).1

Die „Indianerkommune“ in Nürnberg ist ein Zufluchtsort für Kinder, die von zu Hause oder aus Erziehungsheimen ausgerissen sind. Hier werden nicht nur „Kinderbefreiungsmanifeste“ verfasst und gegen die „Erziehungsziele zur christlich-abendländischen Weltanschauung“ argumentiert, hier wird auch „freie Zärtlichkeit und Liebe in einvernehmlich gewaltfreien Beziehungen“ zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen propagiert. Im Juli findet in München der Katholikentag statt. Zehn Jugendliche aus der Nürnberger „Indianerkommune“ sind hierher gefahren und de-
monstrieren gegen „Kinderbewahranstalten“ und Kindesmisshandlungen vor allem in kirchlichen Einrichtungen. Sie werden verhaftet, es kommt zu über vierzig Anzeigen, unter anderem wegen des „Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz“, wegen der „Verbreitung jugendgefährdender Schrif-
ten“ und wegen der „Verletzung religiöser Gefühle“. Bei der Antirepressionsdemo am 29. Juli sind Nürnberger „Indianer“ auch dabei. – Im September kommt es zum Prozess gegen die Kinderrecht-
lerin Bea Erler. Vom 5. bis 19. September demonstrieren die „Indianer“ mit einem Hungerstreik in der Fußgängerzone. Am Samstag, dem 15. September, demonstrieren sie am Sendlingertor-Platz unter dem Motto „Gegen legale Kindesmisshandlungen durch Familie, Kirche, Staat und Erzie-
hung“. Am 19. September demonstrieren sie „für Informations- und Meinungsfreiheit für Kinder und Jugendliche und alle Menschen sowie gegen die Kriminalisierung von Bea“. Auf einem verteil-
ten Flugblatt heißt es: „Der Bevölkerung soll immer wieder vor Augen geführt werden, dass politi-
sche Forderungen und die Lebenspraktiken von unbequemen Minderheiten wie unserer ein und dasselbe seien, und vor allem, dass die Befreiung der Kinder, Jugendlichen einschließlich ihrer Sexualität stets etwas schlechtes, sündiges, kriminelles, jugendgefährdendes, ja Missbrauch und Gewalt seien. (Sexualität wird immer mit Gewalt gleichgesetzt.) Dies ist eine große Lüge. Auch öffentliche Ausschlachtung der schlimmen Gewalt z.B. von Männern (und Frauen?) gegen Mäd-
chen versperrt völlig die Erkenntnis der wichtigsten Ursachen der Gewalt, nämlich: mütterliche Sauberkeitserziehung, Liebesentzug, Sexualitätsverbot, früh unterdrückte Kinder- und Homose-
xualität und Konsumabrichtung. – Wir wissen, dass gerade die entzogene, durch unsere Erzieher kastrierte Kinder- und Homosexualität ein Hauptgrund ist für die krebsartig sich ausbreitende Konsumwelt, Verseuchung und Kriegsgefahr. Kein Mensch macht Kriege, der seine Sexualität in der Kindheit erleben durfte! Auch Faschismus und Neofaschismus können nicht aufgehalten werden, solange die Kinder-, Jugend- und Homosexualität in unseren innersten Gefängnissen, Ängsten und Vorurteilen eingesperrt ist. — Fazit: 700 Kinderselbstmorde pro Jahr! Gewalttätige Erzieher kommen meist ungestraft davon! Es ist eine Frage der Zeit, wann die Wissenschaftler, die die heutigen Schulen als ‚moderne Konzentrationslager’ bezeichnet haben, auch noch verurteilt werden.“2


1 Vgl. Süddeutsche Zeitung 41/1984.

2 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

Überraschung

Jahr: 1984
Bereich: Kinder

Schlagwörter