Flusslandschaft 1984

Schwule/Lesben

Im Juni 1983 waren die Zeitungen voll von Meldungen über die neue „Schwulenseuche“. Die Berichte lösen panische Reaktionen aus. Am 16. Januar 1984 spricht Dr. Hans Jäger von seinen Erfahrungen mit der neuen Infektionskrankheit, die vor allem in den USA grassiert. Am selben Abend gründen der Münchner Löwenclub e.V. und der Verein für sexuelle Gleichberechtigung (VSG) die erste regionale AIDS-Hilfe in Deutschland. — Ordnungspolitiker denken an „seuchenhy-gienische Maßnahmen“. Es drohen Zwangsmaßnahmen, Meldepflicht, Zwangstests und Absonde-rung von Infizierten. In schwulen Kreisen ist klar: Wenn das kommt, werden wir in den „Unter-grund“ gehen, wir werden uns nicht mehr untersuchen lassen. Niemand von uns hat Lust, den Rest seines Lebens in einem Aussätzigenlager in Quaratäne zu verbringen. Zwei sich ergänzende Strate-gien sind jetzt notwendig. Einmal offensiv der emotionsgeladenen Hysterie entgegenzutreten, die nach drakonischen stattlichen Interventionen ruft, dann innerhalb der schwulen Gemeinde eine Übereinkunft auf freiwilliger Grundlage herbeizuführen. Der „Gummi“, der „Pariser“, das Präser-vativ, das Kondom waren bis jetzt tabubesetzt. Darüber spricht man nicht … Schwule Aktivisten er-kennen, dass darüber geredet werden muss, wenn AIDS Einhalt geboten werden soll: Ein Kondom gehört nicht in die hinterste Ecke einer Schublade, sondern ganz offen auf den Schreibtisch oder auf die Küchenanrichte. Kondome gehören ganz offen in ein großes Glas auf dem Tresen in der Schwulenbar. „Und wenn Du jemanden aufreißt, gibt es nicht einen Grund, auf den Gummi zu ver-zichten.“ — Guido Vael ist Gründungsmitglied der Münchner AIDS-Hilfe  e.V. (MüAH) Im Früh-jahr 1987 zählt die MüAH neunzig Mitglieder, vierzig sind ehrenamtlich tätig, angestellt sind ein Sozialpädagoge und eine „Bürofachkraft“.1

Etwa 200 bis 300 Leute gehen beim CSD auf die Straße. Sie müssen mit ernsthaften Schwierigkei-
ten bei Nachbarn, in der Familie, am Arbeitsplatz rechnen.

Siehe auch „Religion“.


1 Siehe „Kondome statt Pogrome“ von Guido Vael.