Flusslandschaft 1985

Alternative Ökonomie

Selbstverwaltete genossenschaftliche Betriebe scheitern manchmal daran, dass es zu Konflikten zwischen Individuen kommt. Überschaubare Zusammenschlüsse wie Wohnungsbaugenossen-
schaften und Genossenschaftsbanken können oft auf eine lange und erfolgreiche Geschichte verweisen. Ihre Zukunftsaussichten sind gut. – Seit den Anfängen der organisierten Arbeiterbe-
wegung galt, dass sie sich auf „drei Säulen“ zu stützen habe: auf die Partei, auf die Gewerkschaften und auf die Genossenschaften. Die alternative Ökonomie der Genossenschaften sollte den Vor-
schein der neuen Gesellschaft erweisen, aber auch die materiellen Belastungen von Arbeiterinnen und Arbeitern bei ihren Auseinandersetzungen mit dem Kapital so gering wie möglich halten. Nach 1945 repräsentierte sich als zentraler Arm der Gewerkschaften die „dritte Säule“ im Wohnungs-
unternehmen Neue Heimat, die 1985 allein in Bayern 35.000 Wohnungen besitzt, in der Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) und in der Lebensmittelkette Coop. Diese großen Unternehmen versuch-
ten den Spagat zwischen alternativer Ökonomie und Wettbewerbsfähigkeit im kapitalistischen Umfeld. Alle drei scheiterten. Neue Heimat-Großwohnsiedlungen waren in Bogenhausen, im Hasenbergl und in Neuperlach. Ab 1982 wurde das Ausmaß von Bereicherung und Misswirtschaft in der Neuen Heimat bekannt. Im Juli 1985 wurde bekannt, dass die Neue Heimat allein in München 2.093 Wohnungen abstoßen will. Es sind vor allem Gewerkschafter, die empört über den beispiellosen Niedergang ihrer „dritten Säule“ sind.1

Mieter-Initiativen demonstrieren am 12. September auf dem Sendlinger-Tor-Platz.2 „Für 3.000 Mieter der Neuen Heimat wird die Demo zu einer Dankprozession.“3

Fünfhundert Mieter demonstrieren am 11. Oktober wegen des Kaufs der Neue-Heimat-Wohnungen.4

Neue-Heimat-Bewohner sind oft Wählerinnen und Wähler der SPD. Es drohen Wahlniederlagen. Nicht zuletzt deshalb kauft die Stadt für 165 Millionen Mark 2.100 Wohnungen von der Neuen Heimat, die bis März 1990 einer Mietergenossenschaft übergeben werden sollen. Im Kaufpreis sind 24 Millionen Mark als Entschädigung für die BG-Immobiliengesellschaft enthalten, die als Erwerber zunächst vorgesehen war.5


1 Schon Rosa Luxemburg erkannte in ihrer Polemik gegen Eduard Bernstein den unauflösbaren Widerspruch zwischen alternativem Anspruch und bitterer Notwendigkeit: „Was die Genossenschaften, und zwar vor allem die Produktivgenos-
senschaften betrifft, so stellen sie ihrem inneren Wesen nach inmitten der kapitalistischen Wirtschaft ein Zwitterding dar: eine im kleinen sozialisierte Produktion bei kapitalistischem Austausche. In der kapitalistischen Wirtschaft beherrscht aber der Austausch die Produktion und macht, angesichts der Konkurrenz, rücksichtslose Ausbeutung, d.h. völlige Beherrschung des Produktionsprozesses durch die Interessen des Kapitals, zur Existenzbedingung der Unternehmung. Praktisch äußert sich das in der Notwendigkeit, die Arbeit möglichst intensiv zu machen, sie zu verkürzen oder zu verlängern, je nach der Marktlage, die Arbeitskraft je nach den Anforderungen des Absatzmarktes heranzuziehen oder sie abzustoßen und aufs Pflaster zu setzen, mit einem Worte, all die bekannten Methoden zu praktizieren, die eine kapitalistische Unternehmung konkurrenzfähig machen. In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapita-
listischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst. Das sind die Tatsachen, die Bernstein selbst konstatiert, aber missversteht, indem er nach Frau Potter-Webb die Ursache des Unterganges der Produktivgenossenschaften in England in der mangelnden »Disziplin« sieht. Was hier oberflächlich und seicht als Disziplin bezeichnet wird, ist nichts anderes als das natürliche absolute Regime des Kapitals, das die Arbeiter allerdings sich selbst gegenüber unmöglich ausüben können! – Daraus folgt, dass die Produktivgenossen-
schaft sich ihre Existenz inmitten der kapitalistischen Wirtschaft nur dann sichern kann, wenn sie auf einem Umwege den in ihr verborgenen Widerspruch zwischen Produktionsweise und Austauschweise aufhebt, indem sie sich künstlich den Gesetzen der freien Konkurrenz entzieht. Dies kann sie nur, wenn sie sich von vornherein einen Absatzmarkt, einen festen Kreis von Konsumenten sichert. Als solches Hilfsmittel dient ihr eben der Konsumverein. Darin wiederum, und nicht in der Unterscheidung in Kauf- und Verkaufsgenossenschaften, oder wie der Oppenheimersche Einfall sonst lautet, liegt das von Bernstein behandelte Geheimnis, warum selbständige Produktivgenossenschaften zugrunde gehen, und erst der Konsum-
verein ihnen eine Existenz zu sichern vermag. – Sind aber somit die Existenzbedingungen der Produktivgenossenschaften in der heutigen Gesellschaft an die Existenzbedingungen der Konsumvereine gebunden, so folgt daraus in weiterer Konsequenz, dass die Produktivgenossenschaften im günstigsten Falle auf kleinen lokalen Absatz und auf wenige Produkte des unmittelbaren Bedarfs, vorzugsweise auf Lebensmittel angewiesen sind. Alle wichtigsten Zweige der kapitalistischen Produktion: die Textil-, Kohlen-, Metall-, Petrolindustrie, sowie der Maschinen-, Lokomotiven- und Schiffsbau sind vom Konsumverein, also auch von der Produktivgenossenschaft von vornherein ausgeschlossen. Abgesehen also von ihrem Zwittercharakter können die Produktivgenossenschaften als allgemeine soziale Reform schon aus dem Grunde nicht erscheinen, weil ihre allgemeine Durchführung vor allem die Abschaffung des Weltmarktes und Auflösung der bestehenden Weltwirtschaft in kleine lokale Produktions- und Austauschgruppen, also dem Wesen nach einen Rückgang von großkapi-
talistischer auf mittelalterliche Warenwirtschaft voraussetzt. – Aber auch in den Grenzen ihrer möglichen Verwirklichung, auf dem Boden der gegenwärtigen Gesellschaft reduzieren sich die Produktivgenossenschaften notwendigerweise in bloße Anhängsel der Konsumvereine, die somit als die Hauptträger der beabsichtigten sozialistischen Reform in den Vordergrund treten. Die ganze sozialistische Reform durch die Genossenschaften reduziert sich aber dadurch aus einem Kampf gegen das Produktivkapital, d.h. gegen den Hauptstamm der kapitalistischen Wirtschaft, in einen Kampf gegen das Handelskapital, und zwar gegen das Kleinhandels-, das Zwischenhandelskapital, d.h. bloß gegen kleine Abzweigungen des kapitalistischen Stammes.“ Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution? Berlin 1899, in: Rosa Luxemburg, Politische Schriften I, Frankfurt am Main/Wien 1968, 101 ff. — Kurt Hirche beschrieb die Rolle der Wirtschaftsunternehmen der Gewerkschaften im Rahmen kapitalistischer Produktion und Konsumtion und das Schicksal dieser Unternehmen nach 1933, sowie ihre Entwicklung nach 1945, ebenfalls sehr kritisch: Kurt Hirche, Die Wirtschaftsunternehmen der Gewerkschaften, Düsseldorf 1966. — Nachdem das Desaster 1987 in einer Katastrophe endet, führt Klaus Novy das Fehlverhalten der DGB-Spitze und der Manager der gewerkschaftseigenen Unternehmen auf das Fehlen eines Verständnisses eigener Traditionen und auf die daraus resultierende Hilflosigkeit zurück. Für Novy hätte das Desaster vermieden werden können. Vgl. Klaus Novy: „Mit Legenden gegen Legenden – Die Produktivität geschichtlicher Erfahrungen bleibt auf der Strecke“ in: Gewerkschaftliche Monatshefte 4 vom April 1987, 254 ff.

2 Vgl. Münchner Merkur 210/1985.

3 Vgl. Abendzeitung 212/1985.

4 Vgl. Abendzeitung 237/1985.

5 Vgl. Arbeiterstimme 71 vom Dezember 1985, 1 ff.