Flusslandschaft 1985

Alternative Szene

„Unsere alten Plakate / Genossen / sind gelb geworden / Ich habe sie zusammengerollt / kürzlich / erschrocken / wie mürbe von den Jahren / ihr Papier doch geworden ist / und dass dies nun auch schon / so weit hinter uns liegt / Nur unsere Unruhe / versöhnt uns / noch manchmal / damit dass wir den Alten / inzwischen / so ähnlich geworden sind / Voller Hass und Angst / vergleichen wir / im Ausflugscafé / unsere Gedanken / mit ihnen / und erkennen / in deren kontrollierten Zügen / diese nur mühsam / entfernte Ähnlichkeit / wieder / Natürlich / unsere Kinder dürfen / den Dreck mitbringen / ins Haus und / beim Nachbarn / einfach klingeln / Aber wir können / wirklich / von Glück sagen / wenn das nicht / schon alles ist / neben den anderen Bildern / bei uns an der Wand / und den alten Bildern / in unserem Kopf.“1

Der Wissenschaftsladen in der Holzstraße 2 im Gärtnerplatzviertel wird ab März von der Anstif-
tung
finanziell gefördert. Hier diskutiert und publiziert eine Gruppe zum Thema „Alternative Wissenschaft“ bzw. „Alternativen zur Wissenschaft“ und beantwortet Anfragen aus der Bevölke-
rung, vor allem zum Thema Atomkraft und Gentechnologie.2

Seit Anfang Mai befindet sich der Infoladen im Keller der Breisacherstraße 12 in Haidhausen.

Die Szene hat bekanntlich kein Geld. Wie soll nun Kommunikation ablaufen, wenn die Stadt alles dafür tut, das sogenannte wilde Plakatieren zu unterbinden?!3

Sie werden in der linksalternativen Szene bald die Außenseiter sein: Alte Zausel, die immer noch vom Umsturz träumen und die nächtelang über Revolutionsmodelle räsonieren. Ihnen gibt Georg Oswald den Rest: „… Zunehmende Massenarbeitslosigkeit, Ausländerproblem, sogenannte ,Neue Armut‘, grassierende Obdachlosigkeit. Die jeweils Betroffenen ergäben zusammengerechnet eine Masse, die ausreichte, den Staat auf den Kopf zu stellen. Aber sie verhalten sich ruhig. Sie simulie-
ren die Unversehrtheit des ökonomischen Systems. Etwas überspitzt heißt das: der Arbeitslose versteckt sich acht Stunden täglich im Klo, der Türke färbt sich die Haare blond und der Obdachlo-
se sagt, er käme von auswärts. Die Werte des herrschenden Systems herrschen tatsächlich in ihren Köpfen. Alle Hoffnungen sind die herbeigesehnte Integration bzw. Reintegration gerichtet. Und es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich das in nächster Zeit ändern sollte. Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebt sowieso in sozial sicheren Verhältnissen. Es wäre widersinnig, wenn sie, saturiert, wie sie sind, nicht auf die Erhaltung ihres Lebensstandards achteten. Zu diesem Zweck wählen sie, der Durchschnitt, ihre durchschnittlichen Vertreter ins Parlament. Wirkliche Empörung entsteht nur dann, wenn sie bemerken, dass ihresgleichen für den Dienst am Volke überdurchschnittlich Geld bekommt. Wer daran etwas ändern will, braucht Mehrheiten. Und die bringt er nicht auf, gegen eine Regierung, die – wie gesagt – dem Mittelmaß optimal angeglichen ist, was Aussehen, Bauchumfang und kritisches Bewusstsein betrifft – und die außerdem aus jeder politischen Infor-
mation der Medien ein Stück Unterhaltung macht. (‚Die geistig-moralische Wende‘, ‚Der schwule General‘ und zuletzt ‚Die Massenflucht der Spione‘, um nur einige der Juwelen zu nennen) …“4

(zuletzt geändert am 18.3.2021)


1 Holdger Platta, Grünanlagen. Politische und andere Gedichte. Reihe sage & schreibe, Göttingen 1985.

2 Vgl. Anstiftung 1988/89, München 1989, 14 ff.

3 Siehe „Sauberes München“.

4 Schwätzer! Magazin für Kultur, Konsum und Abenteuer 6 vom Dezember/Januar 1986, München 24.