Materialien 1970
Warum läuft Herr R. Amok?
Regie und Buch: Michael Fengler, Rainer Werner Fassbinder – Kamera: Dietrich Lohmann (Farbe) – Darsteller: Kurt Raab, Lilith Ungerer, Amadeus Fengler – Produktion: Maran-Film, BRD 1969 – Verleih: Ceres (35 mm), Filmkundliches Archiv Schönecker (16 mm) – Länge: 88 Min. – FSK: ab 16 Jahren.
JFF: ZUR DISKUSSION AB 16 JAHREN
Inhalt: Man könnte den Film auch als Protokoll des Alltags eines technischen Zeichners sehen. Faßbinder und Fengler zeigen eine Auswahl glaubwürdiger Szenen aus dem Leben des Herrn R.: den Alltag in der adretten Neubauwohnung mir einer hübschen, anspruchsvollen Frau und dem verschlossenen schulpflichtigen Sohn. Einen Besuch der Eltern. Den steifen Sonntagnachmittag-Spaziergang im Schnee. Den Kaffeeklatsch mit Nachbarinnen, bei dem die Wohnungseinrichtung und das Fortkommen des Ehemannes Gesprächsthemen sind. Das Gespräch mit der Lehrerin über schulische Schwierigkeiten des Sohnes. Andrerseits auch den Berufsalltag des Herrn R. in einem kleinen Architektur-Büro, wo er die Ideen anderer zu Papier bringt.
Eines Abends zündet Herr R. die Kerzen des Leuchters an und erschlägt seine Frau, seinen Sohn und eine Nachbarin, die zu Besuch ist. Als die Polizei Herrn R. am nächsten Morgen im Büro ver-
haften will, findet man ihn erhängt in der Toilette.
Die Regisseure: Wer Faßbinders Filme (wie z.B. Katzelmacher, Liebe ist kälter als der Tod) kennt, wird feststellen, daß sich „Warum läuft Herr R. Amok“ stilistisch abhebt. Während diese Filme immer gestellt wirken und sich vertrauter Gangsterfilmmodelle bedienen, scheint uns hier der Co-Autor Michael Fengler maßgebenden Enfluß gehabt zu haben. Mit ihm improvisierte Faßbinder den Film in drei Wochen nach einem knappen Konzept. Fengler (Jesuitengymnasium, Kunstge-
schichte, Romanistik, Germanistik) drehte als ersten Film ein Soziogramm einer Kleinstadt: „In einem Ort wie Weinheim“. In einem Interview bezieht er sich auf Kluge und Godards theoretische Äußerungen über Kunst und das Publikum: Kunst habe sich nicht dem niederen Stand der Massen anzugleichen (im Gegensatz zu Faßbinder), sondern die Menschen seien neuen Formen der Kunst und des Sehens zugänglich.
Doch kann hier kein Gegensatz zwischen Faßbinder und Fengler konstruiert werden, denn auch Faßbinder äußert sich (wenn er nicht gerade Journalisten verulkt) anspruchsvoll: „Mir geht es darum, daß das Publikum, das diesen Film sieht, seine eigenen Gefühle überprüft“ (Zu: Liebe ist kälter als der Tod) und weiter: ,,Die Leute sollen erstmal eine Wut haben wie ich sie habe.“ Oder: „Chabrol strebt wie ich gesellschaftliche Veränderungen an, indem er ganz unten anfängt, indem er Gefühle analysiert.“
„Warum läuft Herr R. Amok“ sollte man jedoch unbefangen betrachten. Exemplarisch wird hier unverstellter Alltag vorgeführt. Die Analyse ist vom Zuschauer selbst zu leisten. Der Film schließt mit einer rhetorischen Frage: Der „Ausbruch“ des Herrn R. und sein Selbstmord sind scheinbar unvermittelte Fragezeichen nach einer subtilen Beschreibung. Anstoß zum Gespräch: Warum läuft Herr R. Amok?
Die Rollen der einzelnen Personen: Wir wollen uns der herkömmlichen Methode bedienen und von den einzelnen Personen ausgehen. Dabei wollen wir nicht in der Beschreibung ihrer Individu-
alität verharren, sondern sie in dem Rollenzusammenhang analysieren, in die sie der Film stellt. Dieser Rollenzusammenhang spiegelt exemplarisch Strukturelemente unserer Gesellschaft.
1. Bezugspunkt Eltern: Seine Eltern unterstützen die Familie finanziell. Dies führt dazu, daß die Abhängigkeit von den Eltern erhalten bleibt. Die finanziellen Mittel werden zur Vermehrung des Einkommens der Familie benutzt, in der die Frau nicht arbeitet und er nicht genügend verdient, um sich den vorgezeigten Lebensstandard leisten zu können. Wie die Erziehung in der bürgerli-
chen Kleinfamilie aus Herrn R. einen überängstlichen vereinzelten Menschen gemacht hat (Aus-
sage der Mutter), so taucht die gleiche Situation bei der Erziehung des Sohnes wieder auf. Dem-
entsprechend bleiben seine Sozialerfahrungen beschränkt auf wenige Personen.
2. Bezugspunkt Frau R.: Frau R. verbringt den ganzen Tag in der Wohnung. Für diese Mittel-
standsfamilie darf die Frau nicht arbeiten. Die Frau wird damit zum Statussymbol. Mit dem ihr zur Verfügung stehenden Auto gelangt sie schnell ins Einkaufszentrum. Die Wohnungseinrichtung und das Äußere der Frau R. verraten den gleichen Geschmack, so daß man annehmen muß, daß sie maßgeblich eingerichtet hat. So ist Frau R. Konsumträgerin und Mittlerin gesellschaftlicher Zwän-
ge. Um sich mehr Prestige zu verschaffen, verbreitet sie gegenüber ihren Freundinnen das Gerücht, daß ihr Mann in München eine besser bezahlte Stellung in Aussicht habe. Als sich Familie R. mit einer ehemaligen Klassenkameradin trifft, reden sie mit ihr über Freiheit. Freiheit ist für Frau R. die Möglichkeit, von Parties wegzubleiben, auf denen man sich gegenseitig Kinderfotos vorzeigt oder die Freiheit, Afro-Look zu tragen. So reduziert sich für Frau R. Freiheit zur Freiheit zum Kon-
sum (Auto – Kleidung – Wohnung). Ihr muß es daher primär um gesellschaftliche Anerkennung gehen, wobei gleichgültig ist, was mit dieser Anerkennung unmittelbar verbunden ist. Indem sie so ihre Interessen vertritt, macht sie ihren Mann abhängig von immer höherem Einkommen, ohne Rücksicht auf seinen unbefriedigenden Arbeitsalltag.
3. Bezugsperson Herr R.: R. ist als Strichzeichner Hilfsarbeiter in einem Architekturbüro, und es wundert nicht, wenn für ihn eine Zuordnung einer Garage zu einem Wohnblock und einem Baum zum Problem wird. Er ist in seinen Gefühlen sehr gehemmt und hat Schwierigkeiten im sprachli-
chen Ausdruck. Neigt man da nicht sogleich zu individueller Betrachtung, wie dies eine Bildungs-
bürgerin im Kino im Märkischen Viertel in Berlin in der Diskussion getan hat, als sie Herrn R. als krank bezeichnet? Genauso erklärte ein Arzt Herrn R.‘s Kopfschmerzen individuell. Was kümmert es da, wenn für den Mediziner, der um die Zusammenhänge weiß, chronische Kopfschmerzen Alarmzeichen für anderweitige Schäden sind? Typische Folgen von Überanstrengung und psychi-
schen Schwierigkeiten, deren Ursachen häufig sozialbedingt sind? Doch man braucht nicht Medizi-
ner sein um die Problematik einer solchen individuellen Betrachtung zu erkennen.
Ebenfalls im Märkischen Viertel protestiert ein Arbeiter dagegen, daß man Herr R. Als krank be-
zeichnet und macht die Situation des Herrn R. zu seiner eigenen (vgl. Berlinale Bericht 4/5 1970 in JFF). Hatte er intersubjektiv erfaßt, daß der Film typische Unterschichtsschäden zeigt und ihre Folgen nur verschärft zum unvermittelten Ausbruch bringt?
Eine Aufzählung dieser würde hier nach Lehrbuch klingen. Im Film sind sie echt. Als Herr R. bei einer Betriebsfeier angetrunken versucht, eine Rede zu halten, gedeiht diese zu einem stockenden Gebräu von Lobhudeleien. Sprachlich schwerfällig und inhaltlich eine Montage von Gemeinplät-
zen. Nur einmal im Film hat Herr R. einen echten Kontakt: dann, als ein Schulfreund zu Besuch ist und sie gemeinsam ihre Erfahrungen über den Sonntagsgottesdienst austauschen. Herr R. muß mit seinem Sohn die Hausarbeiten machen, „aber seine Frau braucht nicht arbeiten“, wie er formu-
liert. Es scheint, als habe er den Standard einer Angestelltenschicht verinnerlicht, den er durchhält, auch wenn seine Arbeit Unterschichtarbeit ist und die Entlohnung entsprechend. R. rechnet sich zur Schicht der krawattentragenden Angestellten und hat deren Attribute übernommen: Seine Frau „könne nicht so rumlaufen“ wie die „unabhängige“ Freundin. Und die Frau verhält sich kon-
form.
Jeder ist seines Glückes Schmied? Herrn R.‘s Frau glaubt, daß sich Aufstieg individuell vollzieht. Das Motto der Gesellschaft, in der sie diesen Aufstieg vergeblich versucht, ist ihnen nicht vertraut: Differenziere die Löhne, hierarchisiere die Stellungen, und du wirst herrschen, wenn du die Auf-
stiegsillusion kräftig mißbrauchst! Hinzukommen die Barrieren eines Dreistände-Schulsystems. Planmäßig funktionsgerecht teilt dieses auf in: Dummbelassene, Funktionsdressierte und eine klei-
ne Gruppe, möglichst fachidiotisch begrenzte, leitende Rahmabschöpfer, die die Aufstiegschance (als integrierende Klammer) propagieren.
R.‘s Aufstieg muß Illusion bleiben. Die Versuche, diesen zu organisieren, müssen für Herrn R., der die Arbeitswelt wenigstens kennt, zur Gefahr werden, wenn die Bestätigung ausbleibt. Wer will schon zum Versager erklärt werden?
Ines Knoblich, Jens Meyer, Rudolf Rogler
Jugend Film Fernsehen. Die Zeitschrift für Massenkommunikation und Pädagogik 2-3/1971, München, 121 f.