Flusslandschaft 1985

Religion

„GESINNUNGSGENOSSEN – ‚Der Mensch ist wie sein Umgang.‘ (Trag. Graec. fragm., fr. 812) Am 10. April hat Papst Johannes Paul II. 16 faschistische Abgeordnete des Europaparlaments im Rah-
men einer Generalaudienz empfangen. ‚Der Führer der französischen Nationalen Front Jean Marie Le Pen stellte seine Kollegen dem Papst vor, der jedem die Hand schüttelte. Dann sagte der Papst zu ihnen gewandt: „Fahrt fort in Eurem Kampf gegen die Abtreibung gemäß den Lehren der Kirche und fahrt fort, gegen den Verfall der moralischen Werte in Europa zu kämpfen.“ Neben Le Pen und Almirante‘ (dem Führer der italienischen Neofaschisten) ‚war auch noch der Führer der griechi-
schen Rechtsextremisten Dimitriadis Krisantos anwesend.‘ (La Repubblica, 11. April) Am 12. April hat Wojtyla eine Delegation von US-Senatoren empfangen und sie aufgefordert, ‚auf dem gottes-
fürchtigen und freiheitsliebenden Wege fortzufahren, auf dem sich die Vereinigten Staaten mit Gott befinden.‘ (La Repubblica, 13. April) Kurz darauf forderte er Präsident Reagan telefonisch zur ‚Verstärkung seines Engagements in Mittelamerika‘ auf. (Süddeutsche Zeitung, 18. April) Nur einer Gruppe von Gotteskindern hat er eindringlich von ‚jeglicher Form der Gewaltanwendung‘ abgera-
ten: den Schwarzen in Südafrika anlässlich seines Ostersonntags-Teach-ins auf dem Petersplatz. (La Repubblica, 9. April)“1

Zweitausend Katholiken veranstalten am 16. Mai eine Prozession gegen Godards Film „Maria und Joseph“.2

Die Deutsche Bischofskonferenz hat den „Katholischen Erwachsenen-Katechismus“ herausgege-
ben. Einige Münchner Atheisten lesen ihn interessiert.3

„Der Bund für Geistesfreiheit, Vereinigung kirchenfreier Humanisten e.V. fordert in einer Unter-
schriftensammlung die Abschaffung des § 166 StGB (‚Beschimpfung’ des religiösen oder weltan-
schaulichen Bekenntnisses anderer) und der Verfolgung von Atheisten und kirchenfreien Mitbür-
gern unter diesem Paragraphen, Ende der Gerichtsverfahren, Hausdurchsuchungen sowie Be-
schlagnahmungen wegen Veröffentlichung religions- und kirchenkritischer Plakate, Aufkleber und Publikationen. Näheres bei bfg, Schäringerstrasse 1, München 19, T. 164123.“4

„Als ein schlimmes Zeichen, das an Schrecklichkeit nicht hinter den Atompilzen von Hiroshima und Nagasaki zurückstehe, hat der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Wetter, die Abtreibungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet. Wie Wetter bei einem Pontifi-
kalamt am 15. August 1985 zu Mariä Himmelfahrt im Münchner Liebfrauendom meinte, sei die Menschheit über die weltweite atomare Bedrohung mit Recht bestürzt. Allein in der Bundesrepu-
blik würden aber in einem Jahr mehr als 200.000 Kinder im Mutterschoß getötet, was die Zahl der Opfer beider Atombomben vom August 1945 in Japan noch übersteige. In dieser Situation, so Wetter weiter, sei die verklärte Gottesmutter für die Menschen ein Zeichen des Lebens und der Hoffnung, unter dem auch Atombomben schwächer und bedeutungsloser würden und das Übel und Unrecht der Abtreibung zurückgehen könne. Keine Macht der Welt könne das von Gott ge-
schenkte Licht des Lebens und der Hoffnung zerstören.“5

Seit Ende Dezember liegt Kardinal Joseph Ratzingers Buch „Rapporto sulla fede“ in deutscher Übersetzung vor. Papst Johannes Paul II. hat den ehemaligen Münchner Erzbischof zum Präfekten der Vatikanischen Glaubenskongregation ernannt. Ratzinger fordert in seinem Buch den Gehor-
sam gegenüber der legitimen Hierarchie der Kirche und wettert gegen die „marxistische“ Theologie der Befreiung. Das Buch wird zu einem Meilenstein der Rückbesinnung auf traditionelle Werte und leitet den ideologischen roll back des Katholizismus ein. Reformkatholiken und Laienorgani-
sationen protestieren dagegen.

Mitglieder der Bhagwan-Bewegung demonstrieren am 31. Oktober für die Freilassung ihres Mei-
sters in den USA.6

(zuletzt geändert am 20.12.2019)


1 MSZ. Gegen die Kosten der Freiheit. Marxistische Streit- und Zeitschrift 5/1985, hg. vom Verein zur Förderung des marxistischen Pressewesens e.V. München.

2 Vgl. Abendzeitung 113/1985.

3 Siehe MSZ. Gegen die Kosten der Freiheit. Marxistische Streit- und Zeitschrift 7/1985, hg. vom Verein zur Förderung des marxistischen Pressewesens e.V. München, https://msz.gegenstandpunkt.com/artikel/wers-glaubt-wird-selig.

4 Spion. Zeitung für München 32 vom Juni 1985, 5.

5 Deutscher Freidenkerverband e.V. Ortsgruppe München, Veranstaltungs-Programm 1986, 98; vgl. Süddeutsche Zeitung vom 16. August 1985.

6 Vgl. Süddeutsche Zeitung 253/1985.