Materialien 2025
Räume öffnen!
Offener Brief an die Zivilgesellschaft
Mit großer Sorge beobachten wir die internationalen Entwicklungen in den letzten Wochen und Monaten hin zu einer geopolitischen Neuordnung der Welt, sowie den zeitgleichen massiven Rechtsruck in bislang demokratischen Ländern wie den USA oder Argentinien, aber auch in vielen Ländern Europas inklusive Deutschlands. Wir sehen unsere Demokratie in höchster Not und Ge-
fahr!
In Deutschland manifestiert sich dieser Rechtsruck vor allem in einer vollkommen fehlgeleiteten Debatte über Migration und Zuwanderung. Statt soziale Probleme anzupacken verstärken die etab-
lierten Parteien den diskriminierenden und in großen Teilen rassistischen Diskurs, der von der AfD und anderen rechtsextremen Gruppierungen vorgegeben wird.
Das Sterben von demokratischen Strukturen beginnt dabei mit der immer häufigeren Missachtung von Menschenrechten und von internationalen Vereinbarungen, die diese absichern sollen. Erst recht beginnt sie dort, wo unsere Politiker einen Rechtsbruch offensiv ankündigen (wie das der designierte künftige Kanzler Friedrich Merz vor kurzem mit seiner Einladung an den israelischen Ministerpräsidenten Nethanyau ausgesprochen hat, bei der er sich über einen internationalen Haftbefehl hinwegsetzen will).
Ein zentraler Baustein dieses rapiden Wandels ist die Entwicklung im Nahen Osten, und das nicht erst seitdem Donald Trump seine menschenverachtende Vision von einem Luxusressort am Mit-
telmeer in einem Video veröffentlicht hat, welches an Misanthropie und Zynismus kaum zu über-
bieten ist. Die in Teilen rechtsradikale Regierung in Israel hat jetzt ankündigt, die palästinensi-
sche Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu vernichten, wenn sie „die Hamas nicht selbst vertreibt” und das Gebiet der Westbanks genauso platt zu machen, wie das seit nunmehr eineinhalb Jahren im Gazastreifen geschieht, wo kaum noch ein Stein auf dem anderen steht und die Grundversor-
gung der Menschen blockiert und/oder zerstört wird. Wie jedoch verhält sich die internationale Gemeinschaft zu den massiven Rechtsbrüchen (von Kriegs- und Menschenrecht) durch den Bünd-
nispartner Israel. Wie verhält sich unsere Regierung und wie ist das auf kommunalpolitischer Ebene?
Mit Erschrecken erleben wir, wie in München Kulturveranstaltungen, Benefizkonzerte, Debatten und öffentliche Meinungskundgaben diskreditiert, kriminalisiert und teilweise verhindert werden. Es passiert genau das Gegenteil von dem, was eigentlich nötig wäre: eine offene Debattenkultur, künstlerische Interventionen, ein Zusammenrücken der Gesellschaft, Vermittlungs- und Versöh-
nungsangebote an Personengruppen, die besonders (direkt oder indirekt) von den Geschehnissen im Nahen Osten betroffen sind. Obwohl die Stadt München mit dem Verbot von Debatten über die BDS-Bewegung vor dem Bundesverwaltungsgericht gescheitert ist, gibt es keine erkennbare Ände-
rung der Haltung gegenüber vielfältigen Initiativen, die einen demokratischen Diskurs einfordern. Im Gegenteil: diese werden gegängelt, behindert, eingeschränkt, bedroht und kriminalisiert. Auf die gravierenden gesellschaftlichen Probleme von Antisemitismus und antimuslimischen Rassis-
mus ist dies die falsche Antwort: tatsächlich nehmen beide laut aktuellen Umfragen rapide zu.
Obwohl z.B. pädagogische Fachkräfte schon seit langem fordern, von geschulten Fachleuten be-
treute offene Diskussionen unter jungen Menschen durchzuführen, unter Einbindung von Coaches und Awareness-Strukturen, klafft hier eine riesige Leerstelle. Obwohl es zahlreiche Kulturinitiati-
ven bräuchte, werden diese in meistens verunmöglicht. Obwohl eine Demokratie vom öffentlichen und wertschätzenden Dialog, Austausch und Streit lebt, wird dieser nicht geführt, sondern verhin-
dert. Und obwohl zahlreiche Personen aus dem politischen Leben beteuern, es sei kein Antisemi-
tismus, wenn die Regierung Israels kritisiert wird, wird in der Praxis gegen nahezu jegliche israel-
kritische Äusserung interveniert, werden Lebensläufe von Protagonist*innen und Künstler*innen auf den Prüfstand gestellt, deren punktuelle Äußerungen in den sozialen Medien aus dem Kontext gerissen oder als Beleg für Antisemitismus gewertet, selbst wenn die Betreffenden Aussagen zu-
rückgenommen, Posts gelöscht oder andere Klarstellungen versucht haben. Der seit Jahrzehnten andauernde Konflikt führt zu schweren Verletzungen (bis hin zu Traumata) auf beiden (!) Seiten. Es ist nachvollziehbar, dass bei diesem emotional hoch aufgeladenen Thema immer wieder auch mal unbedachte spontane Äußerungen fallen. Es ist aber noch lange keine Unterstützung proble-
matischer Aussagen, wenn man diese zu thematisieren versucht, um in einen Austausch zu kom-
men. Wer auch immer versucht, Menschen- und Kriegsrechtsverstösse der israelischen Armee zu thematisieren, muss jedoch damit rechnen, mindestens herabgewürdigt und beleidigt oder gar als „Antisemit“ abgestempelt zu werden.
Damit wir nicht falsch verstanden werden: natürlich hat Israel, wie jeder Staat, grundsätzlich ein „Selbstverteidigungsrecht“. Das gleiche Recht gilt aber z.B. auch für Syrien, deren Waffenbestände und Selbstverteidigungsstrukturen beim Umbruch hin zu einer neuen Regierung mal eben prophy-
laktisch von Israel ausradiert wurden, nach dem Motto – das Selbstverteidigungsrecht in der Regi-
on gilt nur für den Staat Israel, nicht aber für seine Nachbarländer. Kein öffentlicher Aufschrei, keine Stellungnahme dazu aus Regierungskreisen. Es ist auch keine „Selbstverteidigung“ wenn Tausende von Pagern gezündet werden, unabhängig davon ob gerade zufällig Zivilisten (darunter viele Frauen und Kinder) in der Nähe sind. Der Krieg im Gazastreifen verstößt permanent gegen das Kriegs(!)recht, indem er die Liquidierung der Zivilbevölkerung (bis zu 2 Millionen Menschen) mindestens als „Kollateralschaden“ in Kauf nimmt. Während Israels Selbstverteidigungsrecht international betont und als Rechtfertigung für Waffenlieferungen herangezogen wird, wird das Recht der Palästinenser auf Selbstverteidigung- und Selbstbestimmung permanent missachtet und verletzt. Diese Liste ließe sich noch ewig fortführen und gerade spitzt es sich erneut zu, weil nicht nur Lebensmittel- und Hilfslieferungen in den Gazastreifen schon wieder blockiert werden und damit eine große Hungersnot in Kauf genommen wird, sondern der Waffenstillstand einseitig ge-
brochen und eine neuerliche, massive Invasion im Gang ist.
Als Begründung für die katastrophale „Toleranz“ der israelischen Kriegsführung wird in der Regel die besondere Verantwortung der Deutschen zum Schutz jüdischen Lebens angeführt. Historische Verantwortung bedeutet für uns aber auch, dass ein „Nie wieder“ überall und für alle zu gelten hat und sie bedeutet, sich gegen jeden (!) Krieg und insbesondere gegen jegliche Form von Kriegsver-
brechen einzusetzen. Gerade aus unserer historischen Verantwortung heraus ist es nötig, all diese Fragen in offenen und öffentlichen Diskursen zu verhandeln und entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
Wir nehmen diese Politik des Verschweigens nicht mehr hin und ergreifen jetzt Initiativen, um diese dringend nötigen Debatten endlich öffentlich zu führen. Wir fordern:
RAUME ÖFFNEN für den demokratische Dialog!
RÄUME ÖFFNEN für das Einbeziehen von Personen aus den verschiedenen Konfliktparteien!
RÄUME ÖFFNEN für einen gerechten und anhaltenden Frieden im Nahen Osten!
Mit diesem Text wenden wir uns an Einzelpersonen und Gruppen mit der Bitte, uns zu unter-
stützen. In Phase 1 wollen wir diesen Brandbrief verbreiten um Unterstützer*innen für unsere Initiative zu finden. Anschließend wollen wir bislang gecancellte Veranstaltungen in öffentlichen (d.h. auch in städtischen) Räumen durchführen. Wir wollen Einzelinitiativen für Kulturevents oder Diskussionsveranstaltungen gemeinsam auf die Füsse stellen, damit die Diskreditierung von Per-
sonen, Initiativen und Gruppen ein Ende findet. Wir distanzieren uns nicht in vorauseilendem Ge-
horsam von Personen und Inhalten, sondern wir werden (mit entsprechenden Moderator*innen und Awareness-Teams) safer spaces kreieren und dafür Sorge tragen, dass Debatten wertschätzend geführt werden können, Diskriminierungen verhindert und Menschenrechte geachtet werden.Auf jeden Versuch uns Räume vorzuenthalten oder diese Kampagne zu verhindern, werden wir juristi-
sche Antworten finden und uns unser Recht für derartige Initiativen (auch in städtischen Räumen) ggf. vor Gerichten erstreiten. Ausgehend vom Grundsatzurteil über ein BDS-Diskussionsverbot in städtischen Räumen gehen wir davon aus, dass wir auf allen Ebenen auch juristisch erfolgreich sein werden.
Sobald die ersten 2 – 4 Veranstaltungen feststehen, werden wir diese bei einer Pressekonferenz öffentlich machen. Auf dieser werden wir dann auch die Gruppen und Einzelpersonen veröffentli-
chen, die unsere Initiative unterstützen. Melde Euch bitte bei uns, wenn Ihr eine Veranstaltung plant und durchführen wollt, damit wir in dem hier entstehenden Zusammenschluss die richtige Form, den adäquaten Ort und den passenden Termin finden und anschließend veröffentlichen können.
Gegen jeden Antisemitismus, gegen muslimfeindlichen und jede andere Form von Rassismus, gegen Diskriminierung, Frauenverachtung, Homo- und Transphobie, gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit!
Für ein aufrechtes und demokratisches Miteinander!
Für eine Rückkehr zur grundsätzlichen Einhaltung von Menschenrechten in all unseren Worten und Taten! München muss das BDS-Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts bedingungslos einhalten und auch Veranstaltungen ermöglichen, deren Legitimität sich aus diesem Urteil in ähnlichen und weiteren Themenfeldern ableiten lassen!
Shelly Steinberg
(deutsche und israelische Jüdin, München)
Thomas Lechner
(parteilose Stadtrat für DIE LINKE in München)
zugeschickt am 8. April 2025