Flusslandschaft 1986
Behinderte
Werner Spring, Bewohner der Pfennigparade, Barlachstraße 30/V (am nördlichsten Rand von Schwabing) gibt die Luftpumpe. Eine Zeitung zur Emanzipation Behinderter und Nichtbehinder-
ter heraus.
Der Verzicht auf Hebebühnen bei Neuanschaffungen von städtischen Bussen stößt am 12. Februar bei Behinderten auf harsche Kritik.1
„Ich bin selbst sehr intensiv pflegeabhängig und habe 13 Jahre lang in verschiedenen Heimen ge-
wohnt. Was ich dabei an subtiler und direkter Grausamkeit erlebt habe, würde selbst die Phantasie eines Alfred Hitchcock überschreiten. — Es war an der Tagesordnung, dass behinderte Kinder ge-schlagen wurden; wenn sie nicht brav waren, wurden sie sogar in einen Schrank gesperrt. Oder wenn Kinder das Mittagessen nicht mochten, dann wurde es ihnen ‚reingelöffelt’, bis sie das Essen wieder erbrachen und anschließend bekamen sie das Erbrochene wieder ‚reingelöffelt’. Aus Mangel an Personal kam es vor, dass kranke Kinder, die im Bett lagen, ohne Beistand sterben mussten. Diese Erlebnisse habe ich in kirchlichen Einrichtungen gemacht, die sich das Motto der ‚Nächsten-liebe’ gegeben haben. — In den wenigsten Fällen kann man dem Personal Vorwürfe machen. Die Bewahranstalten sind hoffnungslos unterbesetzt. Die Unterbesetzung ist zum Teil eine sozialpoliti-sche Frage, zum anderen stellt sich die Frage, inwieweit die traditionellen Wohlfahrtsverbände ein Interesse an menschenwürdigerer und damit kostenintensiverer Betreuung haben. Ich behaupte, dass die Träger der Behinderteneinrichtungen und Alteneinrichtungen nicht mehr gemeinnützige, sondern Wirtschaftsunternehmungen geworden sind. Wie kann es sonst angehen, dass ein Verein, der ein Heim betreibt, aus Angst die Gemeinnützigkeit aberkannt zu bekommen – weil er zuviel Profit erzielte – sich in eine Stiftung umwandelt. — Ich arbeite seit 1981 in einem Arbeitskreis mit, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Menschenrechtsverletzungen in Heimen aufzudecken und sie gerichtlich zu verfolgen. Natürlich arbeiten in dem Arbeitskreis Betroffene, Sozialarbeiter, Rechtsanwälte und Engagierte, also alles Leute, die auch von der Materie etwas verstehen oder sich aus Interesse sachkundig gemacht haben. Was ich in diesem Arbeitskreis von Betroffenen, die es unter irgendwelchen Umständen geschafft haben, heimlich zu uns zu kommen, oder von Mitarbei-tern dieser Einrichtungen, die anonym bleiben wollen, gehört habe, das könnte ein Satiriker nicht überspitzter darstellen: z.B. dass alte Menschen, die verwirrt sind, aus Personalmangel mit Medi-kamenten (Psychopharmaka) ruhiggestellt werden, dass alte Menschen mit Händen und Füßen ans Bett gefesselt werden, dass man junge behinderte Menschen, die pflegeabhängig sind, ins Al-tenpflegeheim abschiebt, wo der Altersunterschied 30 Jahre beträgt, dass in einem Heim für Be-hinderte wegen Personalmangel feste ‚Klozeiten’ eingerichtet wurden und der Betreiber dieses Heimes sich weigerte, mehr Personal einzustellen, dass pflegeabhängige Menschen und alte Men-schen, die zum Pflegefall geworden sind, in ihren Betten verfaulen. — Politiker aller Parteien rüh-men sich, welche Fortschritte die heutige Forschung im medizinischen Bereich vollbringt. Wenn Politiker soviel Geld in die medizinische Forschung stecken, müsste eigentlich die logische Konse-quenz sein, dass ein geretteter Mensch auch mit seiner Behinderung ein menschenwürdiges Leben weiterführen kann. Aber was geschieht? In die Forschung wird noch mehr Geld ‚gepumpt’, und im sozialen Bereich wird noch mehr gekürzt. Politiker aus allen Fraktionen und Vertreter der Kirchen nehmen Stellung zu Menschenrechtsverletzungen in den diversen Krisenländern. Aber dieselben Vertreter setzen Scheuklappen auf, wenn es heißt, dass behinderte und alte Menschen in Deutsch-land gefoltert werden. Ich begrüße es, wenn sie Stellung zu Menschenrechtsverletzungen in ande-ren Ländern nehmen, aber ich verlange gleichzeitig von ihnen, dass sie auch Kenntnis von der deutschen Situation nehmen und danach handeln, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit der Gesellschaft gegenüber bewahren wollen. Ich kann nicht verstehen, dass die Träger dieser Pflegeeinrichtungen nicht auf die Barrikaden gehen und sagen, dass unter diesen sozialpolitischen Bedingungen über-haupt keine menschenwürdige Betreuung möglich ist und dass sie sich nicht weigern, weiterzuar-beiten. Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Verquickung von Politikern und Wohlfahrtsverbänden so groß ist, dass keiner das Interesse hat, in dieser Angelegenheit nachzusto-ßen. Sonst kämen noch manche ‚Peinlichkeiten’ heraus. — Ich möchte die Öffentlichkeit aufrufen, sich bei den Betroffenen zu informieren, weil schon morgen jeder Bürger unserer Gesellschaft in die gleiche Situation kommen kann. Michael Swatschek, München“2
1 Vgl. Süddeutsche Zeitung 36/1986.
2 Die Zeit 44 vom 24. Oktober 1986, 38.