Materialien 1971

Zensurfibel des Bayrischen Rundfunks

Zensur findet statt. – Unter „Zensur“ ist hier verstanden: der unmittelbare oder auch mittelbare Eingriff in politische Aussagen, gleich, ob diese nun tatsächlich „politisch“ sind, im herkömmlich unkritischen Sinne, oder ob sie nur in diesem Sinne vermutet werden.

Es scheint notwendig, hier sehr prinzipiell einzugrenzen, weil sonst – wie es häufig geschieht – bei der herkömmlichen Vermutung von Zensur nur ein kleiner Bruchteil aller verfassungswidrigen Eingriffe in Informationsrechte und Aussagefreiheiten erfaßt werden könnte. Schließlich ist ein Zensierender nur selten so unvorsichtig, sprich: dumm, daß er offen-, sichtbar und dingfest zu machend unterdrückt, und das dann auch noch als politisch notwendigen Eingriff motiviert. (Diese „grobe“ Spielart widerspräche ganz schlicht den in der Branche gängigen Vorstellungen von Gesit-
tung und Benimm – den Faktoren, die bei der Wertung des Zensors gar nicht hoch genug veran-
schlagt werden können.)

Selbstzensur

Die wohl häufigste Form der Zensur ist die, die scheinbar gar nicht stattfindet – die der Selbstzen-
sur:

Der Journalist beschneidet seine Aussage selbst, weil er fürchtet, daß sonst ein anderer das täte. Diese widerwillige, gegen sich selbst gerichtete Beschränkung wird allgemein hoch geschätzt, vor allem von denen, die sich sonst gezwungen sähen, den anderen zu zensieren. Der sich selbst Zen-
sierende möchte den netten Kollegen nicht zwingen, er möchte vielleicht eine schon politisch mißliebige Redaktion schützen, seine Karriere fördern, jedenfalls nicht aufs Spiel setzen. Die Selbstzensur erlaubt demjenigen, der sie praktiziert, bei aller Beschneidung, bei aller Verkehrung und Abschwächung politischer Aussagen, doch noch einen gewissen Spielraum für ein „kritisches“ Selbstverständnis, wenigstens so lange, als sie ihm als schmerzlich bewußt bleibt („ich kann nicht anders, obwohl ich anders will“). Der Selbstzensierende kann insofern auch seine Beschneidung noch als einen positiven, bahnschaffenden Vorgang zur besseren Verwirklichung seines politischen Willens überhöhen („nur dadurch kann ich mir de medialen Möglichkeiten erhalten, die ich haben muß, um dann einmal relevantere benützen zu können“). Er ist nicht gehindert, sein weitgehend ungefährliches Zugeständnis an reale oder auch nur vermutete Machtverhältnisse als „revolutio-
nären Kraftakt“ zu verstehen.

Das Gefährliche daran ist: Da der sich selbst Zensierende einem Zensor die Arbeit abnimmt, da er nur in der Vermutung handelt, „sonst täte es ja ein anderer“, ist er mit seiner Beurteilung seines politischen Willens ganz auf sich gestellt, das heißt: er kann seine politischen Vorstellungen nicht mehr voll an der realen politischen Situation überprüfen, er ist weitgehend seiner psychischen Struktur unterworfen, seinen Ängsten, seiner erlernten Anpassungsbereitschaft. Bald fordert er diese Anpassung auch von anderen, er internalisiert den politischen Druck und gibt ihn weiter. Ergebnis: er verursacht Selbstzensur.

Zensur von außen

Wer zensiert, begründet auch. Wer politisch zensiert, begründet seine Eingriffe jedoch nicht poli-
tisch. Das Typische an allen zensierenden Eingriffen scheint uns eben diese Tatsache zu sein, die sich gewöhnlich im Spielen mit Argumentationsebenen zeigt: der Zensor wählt die, gegen die ihm der Zensierte machtlos zu sein scheint.

Im folgenden sind zwei allgemeine, jederzeit übertragbare typisch wiederkehrende Fälle als Objek-
te der Zensur vorgestellt.

I Ein Moderator, Kommentator usw. sagt zuviel Mißliebiges.

Ebene 1: „Verrat gemeinsamer politischer Interessen.“

Zensor: ,,Mit dieser Stimme verschreckt er (der Moderator, Kommentator usw.) genau die Hörer, Zuschauer, Leser, die ich, – und doch sicher auch Sie – erreichen wollen, wenn wir unsere ,pro-
gressiven’ Anschauungen verbreiten wollen.“

Ebene 2: „Angst machen.“

Zensor: „Wenn dieser Moderator, Kommentator usw. bleibt, gefährdet er Sie (uns) alle. Ob die-
jenigen, die dann kommen, noch das gleiche ‚Progressive‘ wollen, wissen Sie (wir) nicht.“ (Dieser zweite Satz ist eine Kombination aus Ebene 1 und 2.)

Ebene 3: „Kollegialität“

Zensor: „Sie sind doch sicher alle mit einverstanden, daß auch der X (ein anderer) einmal mode-
rieren, kommentieren usw. darf.“ (X sagt weniger.)

Falls das noch nicht genügt, falls bis dahin noch immer nicht die Solidarität zusammenbricht, falls immer noch keiner seinem Ehrgeiz die Zügel freigibt:

Ebene 4: „Äußerer Zwang.“

Zensor: „Ich bin gezwungen, einen anderen Moderator, Kommentator usw. einzusetzen. Ich muß diesem Zwang gehorchen, wenn ich nicht alles verspielen will.“

Fragen nach denjenigen, die den Zensor gezwungen haben, sind nicht statthaft, denn das hieße, ihn zu verdächtigen, daß er die beschworenen Ziele gar nicht vertritt, also: Selbstzensur der Kolle-
gen.

II Ein Manuskript, ein Tonband, ein Film erscheint jemandem zu „kritisch“, zu „ideologisch“, gar als „links“ ohne den Zusatz ,liberal’.

Ebene 1: „Sauberer“ Journalismus.

Zensor: „Ich bin auch für klare Aussagen, möchte auch, daß das gebracht wird. Deshalb überprüfen Sie bitte auch noch, was der X dazu sagt: der Arbeitgeberverband, die CSU, das Ministerium – die Gegenseite. Machen Sie Ihr Manuskript hieb- und stichfest. Beweisen Sie, daß dieser geschilderte Vorfall kein Einzelfall ist, erhärten Sie Ihre Pauschalierungen.“

(Durch Zeitdruck schafft man das meist nicht mehr – also wird das „Pauschale“, das „Ideologische“ gestrichen. Oder: es gibt ein Patt, weil die gegnerische Stellungnahme den eigenen Angriff ab-
blockt.)

Da der Einzelfall nur durch Systemkritik als Symptom erkennbar gemacht werden kann, und da in praxi Systemkritik nur am Einzelfall geübt werden kann, kann auf dieser Argumentationsebene alles durchgesetzt oder alles zensiert werden. Meist bleibt es bei der Schilderung des Einzelfalles; ist er gar zu auffällig, ernennt der Zensor ihn zum Skandal. Damit sind alle ähnlichen unaufgedeck-
ten Fälle ungeschehen, sie scheinen unmöglich zu sein, das heißt: alles andere ist exkulpiert.

Ebene 2: „Umkehrung von Ebene 1.“

Zensor: „Formulieren Sie so, daß der Einzelfall als Symptom erkennbar wird.“

(Damit ist meist das Allgemeinerwerden gemeint. Mit diesem Argument läßt sich so ziemlich alles durchsetzen. Denn: Wenn das Symptomatische als Generelles wirklich voll zum Ausdruck kommt, ist der Text meist nicht mehr angreifbar, er wird aber auch nicht mehr von denen verstanden, die ihn verstehen sollten.)

Ebene 3: „Pluralismus, offene Gesellschaft.“

Zensor: Bestellt ein Gegenmanuskript. „Schließlich sind wir ja in einer offenen Gesellschaft, und das, was Sie angreifen, wird sich erst richtig zeigen, wenn die Gegensätze offengelegt werden.“

(Das ist das Diskussionsprinzip, bestens geeignet zum Einebnen, Verwischen und Glätten. Durch „Ausgewogenheit“ wird die Aussage „ausbalanciert“, sprich verhindert.)


kürbiskern. Literatur und Kritik 3/71, München, 427 ff.

Überraschung

Jahr: 1971
Bereich: Zensur