Materialien 1970
Altersheim-Report
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Auf der Krankenstation, der ich zugeteilt bin, liegen ca. 50 Männer zwischen 50 (!) und fast 100 Jahren. Etwa die Hälfte ganz oder teilweise bettlägerig oder immer auf, sind sie auf 72 Zimmer verteilt, entweder auf fünf Viermann-Zimmer, ein Zweimann-Zimmer, vier Dreimann-Zimmer oder auf zwei Säle zu je sieben Mann. Für die 50 Männer stehen auf der Station ein Bad mit zwei Badewannen, drei Aborte und ein Raucherzimmer zur Verfügung, außerdem ein außerhalb der Station liegender Speiseraum, der auch als Aufenthalts- und Fernsehraum dient. Von den meisten kann dieser Raum jedoch nicht erreicht werden, so daß allein das Raucherzimmer bleibt – wer Rauch nicht ertragen kann oder nicht will, muß auf seinem Zimmer bleiben.
Auf der Station liegt ferner das Sprech- und Behandlungszimmer des Anstaltsarztes, er visitiert einmal wöchentlich und hält täglich etwa drei Stunden Konsultation, das Wochenende ausgenom-
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In den Zimmern gibt es keine Intimität, erst recht nicht in den Sälen. Pfleger, Schwestern und Stationsmädchen dürfen ohne anzuklopfen in jedes Zimmer reinplatzen. Schränke, die aus Raum-
not meist nicht in den Zimmern selbst untergebracht sind, sondern vor diesen auf dem Gang, ge-
hören genauso zum allgemeinen Zugangsbereich von Schwestern und Pflegern wie Nachtkästchen oder sonstiges Eigentum.
Einen eigenen Bezirk, wo Insassen sich ungestört aufhalten können und auch einmal allein sein können, gibt es so gut wie nicht. Das liegt noch nicht einmal am baulichen Ungenügen allein, son-
dern an rational nicht erklärbaren „Hausordnungen“, die mögliche Freiheitsräume versperren, manchmal um der besseren Überschaubarkeit willen, die jedoch nur begrenzt gegeben sein müßte und nur für einige Leute zutreffen dürfte. Alles Geschehen hat nach einem starren Plan abzulaufen, der eine fast unmenschliche Mechanik zeitigt; unmenschlich in dem Sinne, daß sich allenfalls kör-
perliche, niemals aber geistige Bedürfnisse in ein Schema pressen lassen.
Morgens um 6.00 Uhr werden die Kranken herausgesetzt aus ihren Betten, durch oft jahrelanges Liegen sind sie offen und müssen behandelt werden. Um 7.30 Uhr gibt es „Kaffee“, trockenes Brot und eine Malzbrühe, währenddessen müssen sich die Insassen die katholische Messe anhören, die über Lautsprecher in die Zimmer übertragen wird. Ich habe nie erlebt, daß eine Schwester gefragt hätte, ob die Kranken dies überhaupt wünschen. Mittagessen gibt es um 10.45 Uhr, danach werden verschiedene Arbeiten erledigt wie Verbinden, später Baden etc. Nach dem Abendessen um 16.30 Uhr werden die Kranken aufgebettet, um 18.39 Uhr ist bereits Dienstende. Ab 21.00 Uhr erscheint die Nachtschwester, die für das ganze Heim zuständig ist …
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Die Personalpolitik der Stadt ist nicht nur in diesem Punkt fragwürdig; ich habe nie ganz begriffen, nach welchen Gesichtspunkten Pfleger eigentlich eingestellt werden. So konnte man sich offenbar nicht entschließen, auf einen Pfleger zu verzichten, der dafür bekannt war, daß er Insassen den Arm herumdrehte, sie beim Baden untertauchte oder ihnen sonstwie zusetzte. Hingegen bot man einem jungen Pfleger, der seinen Dienst gewissenhaft und sachkundig versah, die Versetzung an, weil er den Mut besessen hatte, auf einen anläßlich der Bundestagswahl 1969 von seiten einer Schwester begangenen Wahlbetrug öffentlich hinzuweisen. Hier wird deutlich, worum es der Heimleitung und der Stadt geht: Nicht um kritische, auf die Entwicklung von Verbesserungen bedachte Pfleger, sondern um bloße Vollzugsgehilfen eigener Schlamperei und Bequemlichkeit. Auf einer Veranstalung des DGB/ÖTV, die im Hause für die Angestellten stattfand, äußerte der oben genannte Pfleger ebenfalls Kritik, worauf er prompt von sämtlichen Schwestern gemieden wurde. Zu mir sagte im Nachhinein eine Schwester: „Schamma dad i mi, gegn d’Schwestern redn!“
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Einen Patienten, von dem ich wußte, daß er alles andere als religiös eingestellt war, fragte ich, warum er kommuniziert habe. Er sagte mir darauf sinngemäß: „Ich wollte eigentlich auch gar nicht. Aber ich tat es doch, damit ich endlich meine Ruhe hatte. Er hat so lange gedrängelt, bis ich ja sagte.“
Solche Vorkommnisse sind keineswegs vereinzelt. Religiöse Intoleranz – mehr noch – Erpressung in religiöser Hinsicht waren eigentlich das Grundprinzip, nach dem verfahren wurde, wenn auch nicht immer so offen und eindeutig wie in diesem Fall.
So habe ich es selbst oft genug erlebt, daß die schon erwähnten Lautsprecher auch abends ihren ideologischen Dienst versehen; da müssen sich die Alten dann über eine halbe Stunde lang das monotone Gemurmel des Rosenkranzes anhören. Ich habe vielen Alten geraten, sie sollten das Gerät doch ausschalten. Einer warnte: „Um Himmels willen, was meinen Sie, was ich da zu hören bekomme!“ Dieser Alte nahm es also lieber auf sich, alles über sich ergehen zu lassen, als persön-
liche Nachteile davonzutragen. Was dahinter steht, ist die pure Angst. Die vorhandenen Annehm-
lichkeiten sind ja so dünn und zerbrechlich, daß die Leute es sich nicht erlauben können, sie aufs Spiel zusetzen, denn: wer ein angenehmer Insasse ist (und das sind die Ruhigen, die nichts wollen oder nicht viel und die nicht viel Arbeit machen!), darf auf freundlichen Umgang rechnen. Selbst den Arzt habe ich einmal in einem Zimmer fragen hören: „Seid ihr auch brav?“ Welche Dienstauf-
fassung jemand haben muß, der mündige Menschen in diese Kategorie einreihen möchte, bedarf keiner Erörterung. Deutlicher spricht das ein Kommuniongebet aus, das ich eine Schwester den Kranken vorsprechen hörte: „Herr, ich schenke Dir meinen Leib und meine Seele, meinen Willen und meinen Verstand.“ Und wie sehr die Schwestern auf den „Leib“ zu verzichten vermögen, jedenfalls was andere betrifft, zeigt das Beispiel einer Schwester, die von den Illustrierten die Deckblätter herunterriß, weil ihr die Mädchen zu freizügig dargestellt waren. „Soli Deo Gloria“, so steht es auch über der Orgel in der Altersheimkapelle …
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An Abwechslung wird nicht viel geboten: Pro Vierteljahr vielleicht eine Theateraufführung oder ein Zauberer-Gastspiel, dazu 14tägig von der Stadt organisierte Filmvorführungen. Was da gespielt wird, braucht nicht lange ausgeführt zu werden, ein paar Titel genügen: „Die linke Hand Gottes“, „Das Schweigen im Walde“, „Der Haflinger-Sepp“, „Sissi, Jahre einer Kaiserin“, „Der Herrgott-
schnitzer von Ammergau“.
Eine Bibliothek im eigentlichen Sinne gibt es nicht, es sei denn, man faßte den Begriff etwas weiter und verstünde darunter auch einen Pfarrer, der, ein paar Bücher unterm Arm haltend, von Zimmer zu Zimmer geht. Diese „holde Abseitigkeiten“ und Idyllen thematisierende Bibliothek ist genaues Korrelat für eine Welt, von der man weiß, daß sie gerade so nicht ist, wie sie in den Büchern ge-
schildert wird; man, muß die komplexe Welt schon kaschieren zugunsten einer Scheinwelt, in der alles noch in Ordnung ist und die schon von daher von Gott bestimmt zu sein scheint, und die also Gedanken an Auflehnung oder Protest erst gar nicht aufkommen läßt: „Der Herr wirds schon zum Guten lenken und wenn ich leiden muß, wirds wohl sein Gutes haben.“ Weniger analytisch hört sich das dann seitens des Pfarrers so an: „Die Leute wollen in dem Alter was Leichtes, was Einfa-
ches. Die wollen Bauerngeschichten oder Bergromane.“
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Während einer vierwöchigen Aushilfezeit im ebenfalls städtischen Altersheim Am Gasteig konnte ich meine Eindrücke relativieren, d.h. verbessern, was das Klima der dortigen Umstände anging. Sowohl Schwestern als auch Personal waren freundlicher, die Menschen dort waren freier. Was jedoch die Zimmer und Säle anging, so hatte ich beim beim Betreten die Assoziation eines dunklen Loches mit unfreundlichen Wänden, wie ich es einmal in einem Dickens-Buch als Illustration sah. Die Betten waren uralt, statt eines Galgens mit Haltegriff hatten sie riesige Gestellüberbauten, die dem ganzen Bett einen käfigartigen Eindruck mitgaben. In dem Zimmer lebten elf Mann ständig miteinander, darunter zur Hälfte Leute, die Urin und Kot nicht halten konnten und ständig – ob aufgestanden oder im Bett – unter sich ließen. Die Hilfsmittel, die mir zur Verfügung standen, waren weniger als primitiv: Meine erste Handlung war, Gummihandschuhe zu besorgen. Zellstoff, der unentbehrlich war, mußte ebenfalls erst beschafft werden, der zuständige Organisator sagte, daraufhin angesprochen: „Ich wußte gar nicht, daß ihr keinen Zellstoff habt.“
Und den Arzt, der zuständig war, habe ich in der ganzen Zeit einmal gesehen; er kam zur Tür he-
rein, fragte, ob jemandem etwas fehle, und bevor jemand etwas antworten konnte, war er zur ande-
ren Tür wieder hinaus …
Manfred Bosch
kürbiskern. Literatur und Kritik 4/70, München, 550 ff.