Materialien 1970

Lehrlingsausbildung bei Siemens

„Kommen Sie in unsere Zukunftsmannschaft. Nutzen Sie Ihre Talente und Neigungen. Unsere Ausbildungsleitung berät Sie gern. Sie haben die Wahl.“ (Aus einer Anzeige der Fa. Siemens, AZ vom 19.2.1970)

Zum letzten Male wurden wir gesiezt, als wir uns in der Firma vorstellten. Schon bei der Aufnah-
meprüfung hörte die Freundlichkeit auf. Neben der Einführng in unsere Arbeit hörten wir dann drei Wochen lang Vorträge, so u.a. über das „Benehmen bei der Lehrfirma“. „Sinn und Zweck der Lehre“, „Die Werkstattordnung“, „Das Führen von Berichtsheften“ und über den „Jugendlichen im Lehrlingsalter“. In unser Berichtsheft mußten wir schreiben: ,,Aller Anfang ist schwer. Aber es hängt von einem selbst ab, wie schwer er ist. Wenn Du jetzt von der Schule in die Lehre kommst, lernst Du viel Neues kennen. Du mußt Dich an manches gewöhnen.“

Wir haben es drei und mehr Jahre am eigenen Leib erfahren, was es heißt, sich an die Siemens-Ausbildung gewöhnen zu müssen. An eine Ausbildung, in der wir als Lehrlinge während der Arbeit nicht miteinander reden durften, in der wir uns weder einmal setzen noch anlehnen durften, in der für den Gang zur Toilette immer eine Erlaubnis einzuholen war und jeden Mittag vor dem Essen wir gewaschenen Hände vorgezeigt werden mußten. Und nicht zuletzt, daß wir von unseren Ausbil-
dern oft genug geschlagen wurden. Wir haben alle Vorfälle gesammelt und von Augenzeugen bele-
gen lassen. Wir mußten dabei Abkürzungen verwenden, damit uns keine Nachteile erwachsen können. Selbst der Bericht der drei Jugendsprecher bleibt anonym, wer das Haus Siemens kennt, weiß warum. Wir haben alle Unterschriften hinterlegt, die gebrauchten Abkürzungen der Namen sind willkürlich gewählt.

Wer uns mangelnde Offenheit vorwirft, verkennt die verschiedenen Ausgangspositionen einer sogenannten „fairen Diskussion“. Der Ohnmacht der einzelnen Lehrlinge steht die organisierte Macht der Ausbilder und Vorgesetzten gegenüber, wer hier von einer ehrlichen Auseinanderset-
zung spricht, ist selbst unehrlich. Denokratischen Denk- und Verhaltensweisen ist bekanntlich der Zutritt zum Bereich der Wirtschaft, und insbesondere dem der Großindustrie, radikal verwehrt. Die Firma Siemens bildet hier keine Ausnahme, die folgenden Seiten sind für wohl ein eindeutiger Beleg.

München, den 26.2.1970
H.S., Maschinenschlosser, F.E., Physiklaborant, P.T., Feinmechaniker

Eine Lehre bei Siemens

Als wir im Herbst 1966 zum erstenmal in die Lehrwerkstatt kamen, hatten wir alle noch keine Ahnung, was wir in den nächsten 3½ Jahren noch alles erleben würden. Wir hatten alle ziemlich verschwommene und idealisierte Vorstellungen von unserer zukünftigen Arbeit; bedingt durch mangelhafte und falsche Informationen von Berufsberatung, Elternhaus und Stellenanzeigen.

Nach der Begrüßung durch den Ausbildungsleiter wurden wir in Gruppen von ca. 30 Lehrlingen eingeteilt. Jeder Gruppe wurde ein Ausbilder zugeteilt und diese führten uns in die Lehrwerkstatt. In der Martinstraße war dies ein einziger Saal, in dem über 300 Lehrlinge arbeiteten. An den dort herrschenden Maschinenlärm, der sehr zermürbend war, gewöhnten sich einige erst nach Wochen, andere nie. Die Lehrlinge in der Tölzer Straße hatten es in diesem Punkt etwas besser, denn dort ist die Lehrwerkstatt auf verschiedene Räume verteilt. Der erste Eindruck war ziemlich bedrückend und, wie sich später herausstellte, auch richtig.

In der nächsten Zeit hörten wir verschiedene Vorträge, die uns in das Berufsleben einführen soll-
ten. Das darin Gehörte unterschied sich schon beträchtlich von dem, was wir an den gleichen Ta-
gen am Arbeitsplatz erlebten. War hier noch von gewissen demokratischen Rechten und natürlich sehr vielen Pflichten die Rede, bekamen wir dort schon die harte Wirklichkeit zu spüren. Es wurde uns gleich von Anfang an von unseren Ausbildern klargemacht, daß es hier nur ein Recht gibt, das Recht des Stärkeren, der Ausbilder.

Wir wurden sehr drastisch an die herrschende Ordnung der Lehrwerkstatt gewöhnt. Wir durften nicht miteinander sprechen, uns während der Arbeit nicht setzen und nicht einmal an die Werk-
bank anlehnen. „Sowas macht ein Siemens-Lehrling nicht, das stört das Bild des Siemens-Lehr-
lings in der Öffentlichkeit“, hieß es. Es gab noch vieles, was ein Siemens-Lehrling „nicht macht“.

Wir durften vor der Arbeit und in der Pause nicht Zeitung lesen oder, die über 16jährigen ebenso, nicht rauchen. Man durfte nicht so häufig die Toilette besuchen und mußte vorher fragen. Das Benehmen außerhalb der Lehrwerkstatt wurde auch vorgeschrieben (Siemens-Lehrlinge rauchen außerhalb der Lehrwerkstatt nicht usw.). Es war vorgeschrieben, sich unter Aufsicht vor dem Mittagessen die Hände zu waschen. Die gewaschenen Hände wurden kontrolliert. Es gäbe noch viele Beispiele, wie massiv in die persönliche Freiheit eingegriffen wurde. Es wurde starker mo-
ralischer Druck auf Lehrlinge mit modischer Kleidung oder mit zu langen Haaren ausgeübt, denen auch mit zwangsweisem Haarschnitt gedroht wurde. („Morgen kommst Du mit kurzen Haaren, sonst geh’n wir zusammen zum Friseur, dann sind sie aber kurz, wie ich will!“)

Die Ausbildung begann mit einer einfachen Feilübung, die im Feilen des Würfels fortgesetzt wurde. Hier fiel uns besonders die Überbewertung und Glorifizierung der Blasen an den Händen der Lehrlinge durch die Ausbilder auf. Für viele war es eine böse Qual. Diesen Lehrlingen wurde aber nicht moralisch geholfen, sondern sie wurden als Schädlinge und Muttersöhnchen lächerlich ge-
macht.

Von Anfang an mußten wir jede Woche einen zweiseitigen Berichrt schreiben, der Auskunft über unsere Arbeit geben sollte. Die ersten zwei Berichte mußten wir aus einer Broschüre abschreiben, die „Zum Beginn“ hieß. In diesem Text war nur von Pflicht, Ordnung, Achtung, Unterordnung zu lesen. Nach ein paar Wochren begann auch der Berufsschulunterricht und der werkseigene Fir-
menunterricht in Technischem Zeichnen und Fachkunde.

Der tägliche Frühsport wurde nicht so durchgeführt, wie er sein sollte. Die angeblich zur Locke-
rung gedachten Übungen arteten in ein leistungssportliches Training aus.

In der Ausbildung gingen wir nach dem vorliegenden Ausbildungsplan vor. Zuerst machten wir die allgemeine halbjährliche Grundausbildung durch. Hier wurden uns die einfachen manuellen und maschinellen Fertigkeiten beigebracht. In den anschließenden Zusatzlehrgängen sollten diese Fer-
tigkeiten für die einzelnen Berufe differenziert vertieft werden.

Schon nach wenigen Wochen waren wir alle, teilweise mit Gewalt, in die bestehende Ordnung eingefügt. Nach dieser Zeit herrschte unter uns die feste Überzeugung, daß man gegen diese Ge-
meinheiten der Ausbildung nichts unternehmen kann. Wir fügten uns dann und ließen uns demo-
oralisieren und schlagen. Keiner kam auf die Idee, sich beim Betriebsrat oder Jugendsprecher zu beschweren, da wir wußten, daß uns diese Leute auch nicht grundlegend helfen konnten. Sie konnten vielleicht einen Mißstand beheben, wir aber mußten dann damit rechnen, für das sog. „Verpetzen“ aufs neue und versteckt gestraft zu werden. Nur so ist es zu erklären, daß sich Lehrlin-
ge sogar zusammenschlagen ließen. Lehrlinge, die bei ihren Ausbildern nicht beliebt waren, beka-
men auch schlechte Berichtsheftnoten; umgekehrt konnten es sich gut angeschriebene Lehrlinge leisten, schlechte Berichte zu schreiben. Sie waren ihrer guten Note gewiß. Sie durften auch einige Ehrenpöstchen ausführen, die eine gewisse Erleichterung der Arbeit brachten. Zusammenfassend kann man vielleicht sagen, daß nur das getan werden durfte, was die Billigung der einzelnen Aus-
bilder fand. Alle Abweichungen bis hinein in die kleinsten persönlichen Bereiche wurden unter-
drückt.

Lehrlinge, die besonders gut waren und teilweise ihre Lehrgänge früher als die anderen beendeten, mußten in der verbleiben den Zeit Privatarbeiten für die Ausbilder durchführen. So wurden in die-
ser Zeit, die bis zu drei Monate betragen konnte, Arbeiten wie Kerzenständer, Blumenständer, Pri-
vatwerkzeug etc. von einzelnen Lehrlingen angefertigt; für den Saalmeister Meier sogar einmal ein Autodachständer und ein Hundeknochen. Lehrlingen hingegen war es generell verboten, für sich kleinere Arbeiten auszuführen.

Nach den zwei Jahren Lehrwerkstatt kamen die meisten von uns in den Betrieb, in die einzelnen Werkstätten. Wir betrachteten dies als eine Erlösung und Befreiung. An unseren neuen Arbeits-
plätzen, die wir ca. alle 4 Wochen wechselten, wurden wir wenigstens nicht mehr moralisch unter Druck gesetzt oder geschlagen. Dafür fiel uns aber die teilweise Willkür in der Notengebung auf. Hatte man z.B. einmal in der Woche ein kleines Werkstück verpfuscht, und die anderen 10 bis 15 Stück gut gemacht, so bekam man trotzdem ein 4 in „Güte“. So war es auch mit den anderen No-
ten. Während unserer Tätigkeit im Werk wurde uns auch klar, daß es nicht stimmt, wie es uns zu Anfang gesagt wurde, daß unsere Ausbildung viele tausend Mark kosten würde, die für die Firma ein völliger Verlust wären. Wir mußten in diesem einen Jahr im Werk Facharbeiterarbeit durch-
führen und nach Facharbeiterzeit arbeiten. (75 Prozent eines normalen Facharbeiters.) Wenn man bedenkt, daß wir DM 0,80 Stundenlohn bekamen und die Facharbeiterstunde vielfach höher ver-
rechnet wird, kann man sich den Gewinn dabei ausrechnen.

Für die Physiklaboranten gilt diese Rechnung nicht. Wir waren zwei Jahre produktiv beschäftigt und unsere Arbeit wurden von den Labors teilweise als Ingenieurarbeit verrechnet.

Wir möchten besonders stark kritisieren, daß die Ausbilder und die Betreuer in den Lehrwerk-
stätten und am Arbeitsplatz über keine pädagogischen Fähigkeiten und Ausbildung verfügten. Sie verwendeten eine willkürliche, ihnen genehme „Erziehungsform“ gegen uns. Wir finden das be-
sonders schlimm, weil wir uns damals in einem Alter befanden, in dem wir zwar in unserer Unsi-
cherheit und unserem Bedürfnis nach einer vernünftigen Autorität noch halbe Kinder waren, wir aber körperlich und geistig schon nach Freiheit und einem eigenen Leben strebten. Viele von uns gehen gebrochen und ohne Form aus dieser Ausbildung raus, was natürlich von dieser Firma nur begrüßt und, wie wir glauben, mit dieser Ausbildung auch angestrebt und beabsichtigt wird.

Darum kann die Schuld auch nicht allein bei den einzelnen Ausbildern liegen, die geprügelt und geschlagen haben, sondern ist hauptsächlich bei jenen Leuten zu suchen, die eine derartige Aus-
bildung planen und durchführen lassen.

Siemens-Lehrlinge geben zu Protokoll

In der Lehrwerkstatt Tölzer Straße besteht ein Putzdienst, der Toiletten- und Waschräume und den Boden von Papier und Schmutz zu reinigen hatte. Der Lehrling M.D. stellte fest, daß eine der Toi-
letten durch Papier und Exkremente verstopft war. Durch Ziehen der Spülung war nicht Abhilfe zu schaffen. Er benachrichtigte den Ausbilder Sperling. Dieser befahl dem Lehrling, die Toilette mit der Hand zu reinigen. („Zieh’s halt raus!“ – ,,Mit was?“ – „Lang nur rein!“) Der Lehrling weigerte sich, dies auszuführen. (Es sei unhygienisch und wäre Sache der Putzfrau.) Er wies daraufhin, daß er Maschinenbauer und kein Toilettenputzer sei. Darauf versuchte der Ausbilder Sperling, den Lehrling zu zwingen und drohte ihm bei weiterer Weigerung mit Strafen. Der Lehrling gab nicht nach und wurde daraufhin zu weiteren 4 Wochen Toilettendienst verurteilt.
2 Zeugen

Der Lehrling K.M., einer der jüngsten und kleinsten (damals 14 Jahre alt), wurde von seinem Aus-
bilder Tresenreiter bei jeder Gelegenheit, wie schlechte Berichtsheftnoten, falsche Arbeitsausfüh-
rung, am rechten Ohr gezogen, bis dieses einmal einriß und blutete. Der Lehrling traute sich nicht, dies dem Ausbilder zu sagen. Daraufhin ging der Lehrling F.E. als Ältester zu dem Ausbilder und sagte es ihm. Darauf antwortete der Ausbilder, wenn das so sei, müßte er ihn halt am anderen Ohr ziehen, was er in der folgenden Zeit auch tat.
Ort: Werkstatt Martinstraße, 4 Zeugen

Der Lehrling R.S. hatte nach Ansicht des Ausbilders Rehm zu lange Fingernägel. Der Ausbilder sprach den Lehrling an, ob er spinne, warum er so lange Fingernägel habe. Dies sei unmöglich und das ginge nicht. Er zog dann ein Taschenmesser heraus, packte die Hand des Lehrlings und schnitt ihm mit dem Messer die Fingernägel kurz.
Ort: Tölzer Straße, 2 Zeugen

Der Lehrling F.E. ließ am Dreibackenfutter einer Drehbank einen Schlüssel stecken. Der Ausbilder Strasser sah dies, pachte die rechte Hand des Lehrlings und drückte sie in den scharfen Drehstahl, bis die Druckstelle blutete. Er fragte den Lehrling, ob er an seiner Drehbank nichts besonderes sähe.
Ort: Martinstraße, 1 Zeuge

Alle Lehrlinge sind gezwungen, ihre Hände zu waschen und diese dann dem Ausbilder zu zeigen. Der Lehrling G.L. wusch sich einmal nicht die Hände. Nach der Mittagspause wurde er zum Ausbilder Mittelmeier zitiert („Du hast Dir die Hände nicht gewaschen, komm her, daß ich Dich packen kann“). Der Lehrling H.S. sagte darauf spaßhaft zu dem Lehrling G.L.: „Das tät ich nicht machen.“ Der Lehrling ging aber doch zum Ausbilder. Dieser zog ihn an den Koteletten und beutelte ihn. Dann wandte er sich dem Lehrling H.S. zu, der die „vorlaute“ Bemerkung fallen ließ. Er brüllte ihn an, was ihm eigentlich einfiele. Darauf entschuldigte sich der Lehrling in höflicher Form. Dann rief ihn der Ausbilder wieder zu sich her. Der Lehrling weigerte sich: „Nein, ich geh doch nicht zu Ihnen, damit Sie mich an den Haaren ziehen können.“ „Dann komm ich zu Dir!“ antwortete der Ausbilder erregt. Er ging zu dem Lehrling und packte ihn an den Haaren. Der Lehrling forderte den Ausbilder zweimal auf, ihn loszulassen. Dann nahm der Lehrling die Hand des Ausbilders und tat sie weg. Darauf packte der Ausbilder ihn am Arbeitskittel und schüttelte ihn. Der Lehrling forderte den Ausbilder wieder auf, loszulassen. Als der Ausbilder sah, daß er nicht weiterkam, holte er die übrigen Ausbilder und diese zogen über den Lehrling her. Der Vater des Lehrlings wurde anschließend zu einer Aussprache gebeten und der Lehrling der Aufsässigkeit bezichtigt.
Ort: Tölzer Straße, 4 Zeugen

Wir mußten jeden Tag von 10.00 bis 10.15 Uhr am Frühsport teilnehmen. Dieser Frühsport, der der Auflockerung und Erholung vom Stehen am Arbeitsplatz als Ausgleich dienen sollte, wurde folgendermaßen durchgeführt: Wir mußten in Zweierreihen schweigend auf den angrenzenden Fußballplatz marschieren und dann zuerst zweimal um den Platz laufen. Lehrlinge, die körperlich nicht in der Lage waren, das vorgeschlagene Tempo zu halten, mußten eine Sonderrunde laufen. Dann mußten wir uns im Kreis auf dem Platz aufstellen und folgende Übungen turnen: zirka 50 Arm- und Rumpfbeugungen, bis 15 Liegestützen, bis zu 47 (gezählt) Kniebeugen, etwa 50 mal in die Höhe springen, laufen auf der Stelle, Schattenboxen und so weiter. Zum Schluß mußten wir von der Mitte des Platzes in der Kniebeuge vom Platz laufen („Entengang“). Lehrlinge, die irgendwie auffielen (zu schwach waren o.ä.), wurden in die Mitte zum Ausbilder geholt und mußten so lange turnen, wie es der Ausbilder wollte. Oft halfen die anderen Ausbilder bei Übungen nach, zogen z.B. die Arme nach hinten oder drückten beim Kniebeugen ins Kreuz. Wenn wir an den Arbeitsplatz zurückkehrten, war es uns oft zum Erbrechen schlecht, wir zitterten, waren total durchgeschwitzt, sollten aber genauso gründlich weiterarbeiten wie vorher und durften uns nicht hinsetzen und ausruhen. Der Frühsport fand bei jedem Wetter, auch bei starkem Regen, statt.
Ort: Martinstraße, 5 Zeugen

Wurden Lehrlinge beim Reden, Lachen oder Spaßmachen erwischt, mußten sie mehrseitige Auf-
sätze in Normschrift schreiben, die ihren Eltern zur Unterschrift vorgelegt werden mußten.
Ort: Martinstraße 5 Zeugen

Der Lehrling K.M., Brillenträger, wurde des öfteren bei sog. Verfehlungen von seinem Ausbilder Tresenreiter aufgefordert, seine Brille abzunehmen. Alle wußten dann, daß er im nächsten Moment eine Ohrfeige bekommen würde.
Ort: Martinstraße, 5 Zeugen

Einige Lehrlinge bemerkten, daß der Ausbilder Georg Rehm nach Alkohol roch. Sie machten unter anderem den Lehrling M.U. darauf aufmerksam, der dem Ausbilder daraufhin zweifelnd ins Ge-
sicht sah. Der Ausbilder bemerkte, daß ihn der Lehrling anschaute. Er forderte ihn auf, seine Brille abzunehmen und schlug ihm ins Gesicht. Der Schlag war so heftig, daß der Lehrling mit dem Hin-
terkopf an den eisernen Spind schlug. Daraufhin ging der Ausbilder ohne Erklärung weg.
Ort: Martinstraße, 2 Zeugen

Der Lehrling M.U., damals 17 Jahre alt, stand in lässiger Haltung an der Drehbank im Maschinen-
saal und drehte an der Spindel des Supports, um eine Arbeit durchzuführen. Der Ausbilder Vogel sah ihn dabei und nannte ihn darauf einen „stinkigen, faulen Hund“, der nicht wisse, wie man eine Arbeit auszuführen habe. Den Lehrling traf diese Beleidigung ziemlich und er beschwerte sich beim Meister. Dieser wies nicht nur die Beschwerde zurück, sondern kanzelte den Lehrling weiter ab, bis dieser an seine Drehbank zurückging und zu weinen begann. Der Lehrling war allgemein bei Ausbildern und Lehrlingen als sehr sensibel bekannt. Er weinte zwei Stunden. Einige Ausbilder gingen noch zu dem Lehrling, unter anderem die Ausbilder Vogel, Langkopf und bearbeiteten ihn weiter mit Fragen wie: „Bist Du denn ein Weib, wieso flennst Du“ usw.
Ort: Tölzer Straße, 2 Zeugen

Beim feierabendlichen Werkstattkehren erlaubte sich ein Lehrling, den Besen zu schieben statt zu ziehen, wie vorgeschrieben. Darauf trat der Ausbilder Dörfler hinter den Lehrling und versetzt ihm (seine üblichen) 2 bis 3 Handkantenschläge ins Genick. Dann fragte er den Lehrling, ob er nicht wisse, wie man zu kehren habe.
Ort: Martinstraße, 1 Zeuge

Der Ausbilder Strasser schliff dem Lehrling F.S. einen Drehstahl. Dann gab er ihn dem Lehrling zurück und drückte ihm das heiße, geschliffene Ende in die Hand und grinste dabei. Der Lehrling konnte sich nicht erlauben, den heißen Stahl fallen zu lassen, da er sonst mit einer Strafe zu rech-
nen hatte.
Ort: Martinstraße, 3 Zeugen

Der Ausbilder Hermann fühlte sich durch einige Lehrlinge der Gruppe Tresenreiter verunsichert. Er rief den Lehrling R.V. zu sich und stellte ihn zur Rede, ob er über ihn lache. Dann schickte er den Lehrling wieder auf seinen Platz mit der Bemerkung, daß er ihm eine runterhaue, wenn er nochmals grinse. Der Lehrling mußte aber trotzdem grinsen. Da setzte ihm der Ausbilder Her-
mann nach und schlug ihm von hinten auf den Kopf.
Ort: Martinstraße, 4 Zeugen

Der Lehrling F.S. wollte den Bohrtisch einer Säulenbohrmaschine verstellen. Als er den Arretie-
rungshebel löste, rutschte der Tisch um etwa 1 mm nach unten und schlug hörbar auf. Der Ausbil-
der Hefele trat zu dem Lehrling, gab ihm einen Schlag auf den Kopf und fragte ihn, warum es ge-
kracht habe. Er ließ den Lehrling den Vorgang öfters wiederholen, wobei es immer wieder krachte und der Lehrling wieder einen Schlag bekam. Auf die wiederholten Fragen des Lehrlings, warum es krache, wenn er den Hebel löse, bekam er zur Antwort, er solle nachdenken. Zum Schluß kam der Lehrling darauf, daß beim Lösen des Hebels die Flanken der Gewindemutter des Bohrtisches auf die Flanken der Zahnstange mit einem hörbaren Schlag aufsetzten. Eine Erklärung von seiten des Ausbilders unterblieb.
Ort: Martinstraße, l Zeuge

Der Lehrling R.V., damals 16 Jahre, kam eines Tages mit verbundener linker Hand zur Arbeit. Er wurde zum Saalmeister Meier gerufen, der ihm das Pflaster abriß. Es waren Verbrennungen zu sehen, die von ausgedrückten Zigaretten stammten. Der Lehrling gab auf Befragen keine Auskunft über die Ursache. Er wurde zuerst zum Werksarzt geschickt, der ihn verband. Als er zurückkam, wurde er nochmals verhört, und als er wieder keine Auskunft gab, vom Saalmeister Meier mehr-
mals stark geohrfeigt, bis er in eine der nebenstehenden Spindelpressen stolperte.
Ort: Martinstraße, 5 Zeugen

Der Lehrling Y.O. wurde von dem Ausbilder Altstiel wegen seines müden Aussehens verdächtigt, rauschgiftsüchtig zu sein. Er wurde zum Werksarzt geschickt und gezwungen, sich einer Blutprobe zu unterziehen. Das Untersuchungsergebnis war negativ.
Ort: Tölzer Straße, 1 Zeuge

Die Arbeitsmöglichkeit von Jugendvertretern bei der Fa. Siemens: Wir sind von unseren gesamten Mitlehrlingen gewählt worden, um ihre Interessen gegenüber der Ausbildungsleitung zu vertreten. Wir wurden jedoch nur gewählt, um das Bild der Mitbestimmung nach außen zu wahren, konnten aber bis jetzt noch fast keinen Erfolg verzeichnen. Wie wir glauben, liegt dieser Mißerfolg zum ge-
ringsten Teil an uns, sondern an den Schwierigkeiten, die uns von den Ausbildern und der Ausbil-
dungsleitung gemacht werden.

Nachdem wir nach einer gewissen Zeit sahen, daß wir keinen persönlichen Kontakt zu unseren Mitlehrlingen fanden, wollten wir im Dezember 1969 eine Jugendversammlung einberufen, um ihnen unsere Vorstellungen, Pflichten und Möglichkeiten der Hilfe klarzulegen. Als wir den Wunsch nach dieser Jugendversammlung dem Betriebsrat darlegten, wurden wir anfangs unter-
stützt. Auf unsere wiederholten Anfragen bekamen wir die fadenscheinige Antwort, es sei für uns kein Saal vorhanden, bzw. dies müsse von der Firmenleitung erst genehmigt werden und diese sei gerade verreist. Ein weiterer Rüchschlag war für unsere Arbeit, daß uns z.B. von dem Meister Meier die Hilfe für einen Lehrling verweigert wurde. Der Lehrling L.Y. wurde nach einem Disput mit dem Ausbilder Vogel von diesem rücksichtslos buchstäblich ins Meisterpodium geschleift. Dann bearbeiteten ihn die anderen Ausbilder. Als das einer von uns sah, wollte er in seiner Eigen-
schaft als Jugendsprecher vermitteln und den Fall klären helfen. Als er die Türe zum Meisterpo-
dium öffnete und höflich fragte, ob er zuhören dürfe, wurde er sehr barsch des Raumes verwiesen. In dieser und ähnlicher Art wird uns die Arbeit schwer gemacht oder ganz verweigert. Wir fragen uns, wozu wir eigentlich gewählt worden sind.
gez. 3 Siemens-Jugendsprecher

Resolution

Wir protestieren gegen eine Ausbildung, in welcher Jugendliche mit unpädagogischen Mitteln genötigt werden, sich in eine Betriebshierarchie einzufügen, die nicht geeignet ist, einen jungen Menschen zu demokratischer Haltung zu erziehen. Jeder Gedanke an Kritik wird autoritär niedergedrückt.

Während der Zeit unserer Ausbildung wurde uns immer klarer, daß in der Lehrwerkstatt einzig und allein das Recht des Stärkeren maßgebend ist. Jeder von uns mußte im Laufe seiner Lehrzeit erfahren, daß er keine Möglichkeit hatte, sich gegen dieses Ausbildungssystem zur Wehr zu setzen.

Wir protestieren gegen eine Ausbildung, in der durch körperliche Züchtigung Angst, Minderwer-
tigkeitskomplexe und seelische Hemmungen hervorgerufen werden, die das Selbstbewußtsein der Lehrlinge in starkem Maße mindern.

Wir haben Beispiele und Belege für unsere Behauptung gesammelt; es ist an der Zeit, den Betriebs-
frieden des Hauses Siemens zu stören, ein Friede, der durch die Macht Weniger auf dem Rücken der Mehrheit der Arbeiter, Angestellten und Lehrlinge hergestellt wird. Es ist nicht das „Interesse der Gesamtheit“, wie es uns die Betriebsordnung vorgaukelt, sondern das Profitinteresse der Min-
derheit, das uns zu nützlichen Fachidioten ausbilden ließ.

Wir wenden uns nicht in erster Linie gegen unsere Ausbilder, sondern gegen eine bestimmte Aus-
bildung, die mit Wissen der Firmenleitung gebilligt wird und der in der Freisprechungsfeier ge-
huldigt werden soll.

Wir wünschen, daß unsere Unterschriften zu dieser Resolution der Firma Siemens nicht be-
kanntgegeben werden, weil sich die Schwierigkeiten, die wir ohnehin schon haben, dadurch noch vergrößern würden.

Wir solidarisieren uns mit allen, die in der Ausbildung stehen, die in ähnlicher Weise wie wir unterdrückt werden.

Wir wollen den Kampf gegen diese Ausbildung aufnehmen.

Diese Resolution wurde bis zur Freisprechungsfeier im Februar 1970 von 103 auslernenden (da-
runter 3 Jugendsprecher) und 30 noch in Ausbildung befindlichen Lehrlingen der Firma Siemens unterzeichnet und auf der Veranstaltung im Werk an der Hofmannstraße vor den versammelten Direktoren, Eltern, Lehrlingen und Pressevertretern verlesen. Die Betriebsleitung reagierte mit dem Abschalten der Mikrofone und der Drohung, den Werkschutz einzusetzen. Die Freispre-
chungsfeier platzte.

Und was geschah danach?

Auf einer Pressekonferenz hat Siemens inzwischen offiziell die Mißstände in der Lehrlingsausbil-
dung zugeben müssen: „Es ist geschlagen worden“, berichtete die Münchner Presse am 24. März 1970. Und: „Siemens kündigt Konsequenzen an.“

Doch nichts ist geschehen. Der Leiter der sozialpolitischen Abteilung, Lüders, hat nichts anderes zu tun, als von einer Belegschaftsversammlung zur anderen zu eilen, um durch falsche Darstel-
lungen, Einschüchterungsversuche und abgestandene Witzchen die Interessen seiner Brötchen-
geber wahrzunehmen.

Der Arbeitskreis „Siemens Lehrlinge & Facharbeiter“, der sich nach der geplatzten Freispre-
chungsfeier gebildet hat, wird nicht locker lassen. Der Kampf gegen Mißstände in der Ausbildung, gegen Ausbeutung durch produktive Arbeit muß fortgesetzt werden.

Was Siemens mit seinen Kritikern macht, ist inzwischen nur allzusehr bekannt geworden. Auf die Süddeutsche Zeitung und die Abendzeitung ist massiver Druck auf die Berichterstattung ausgeübt worden (die Deutsche Journalisten-Union, Ortsverein München, hat dagegen scharfen Protest eingelegt). Der Chefredakteur der tz, Franz Schönhuber, ist entlassen worden. Die tz hatte als ein-
zige Zeitung die Vorfälle auf der Freisprechungsfeier in der Schlagzeile gebracht. Daß hier Zu-
sammenhänge zu sehen sind, ist nicht nur bloße Vermutung. Der SPD-Landesvorsitzende, Gabert, hat inzwischen den Deutschen Presserat angerufen. „Nach Gerüchten“, so schreibt er an den Presserat, habe sich der Verleger in redaktionelle Fragen eingeschaltet, als ein Großunternehmen mit dem Entzug von Inseraten-Aufträgen drohte, wenn ein von der Redaktion geplanter kritischer Beitrag über dieses Unternehmen erscheine. Es ist ein offenes Geheimnis, daß hiermit die Firma Siemens gemeint ist.

Doch nicht zuletzt im „eigenen“ Haus räumt Siemens mit unbequemen Kritikern auf: in der Hof-
mannstraße wurde der Arbeiter Alois P. fristlos entlassen, nachdem er sich auf einer Beleg-
schaftsversammlung gegen die geplante Abschaffung des arbeitsfreien Pfingst-Diensttages ausgesprochen hatte.

Was sagen Sie zu solchen Methoden?

Offensichtlich heißt Siemens: Wenige Siemens-Großaktionäre bestimmen über die Arbeit der vielen, das heißt, sie bestimmen, was den vielen an Lohn ihrer tatsächlichen Arbeitsleistungen vorenthalten wird, damit es den wenigen zu Profit wird, und das nennt nicht nur Karl M. Kapitalismus.

Meinen Sie nicht, Widerstand sei vergeblich!

Er muß organisiert werden. Beginnen wir gleich! Die Zeit, und die Zustände zwingen uns dazu, wenn unsere Arbeitskraft von wenigen verschachert werden soll. Siemens ist nur ein Beispiel!


kürbiskern. Literatur und Kritik 4/70, München, 661 ff.