Materialien 1967
Amerikanischer als die Amerikaner
Rede zum Internationalen Vietnam-Tag
Motto: LBJ am 6.2.1965 vor New Yorker Studenten: „Ich würde es begrüßen, wenn sie (die ame-
rikanischen Studenten) ebenso viel Fanatismus für ihr politisches System aufbringen würden wie die jungen Nazis während des Krieges für ihr System aufgebracht haben.“
1. Zitate
Die amerikanischen Experten haben aus ihrem Krieg in Vietnam jetzt zwei Kriege gemacht.
Ein Krieg wird geführt unter dem Motto: clear and destroy oder search and destroy; der andere Krieg hört auf den Namen „Pacification“, aber er wird auch genannt the „other“ war. Beide Kriegs-
arten haben Vorläufer. Die erste Kriegsart wird in unseren Zeitungen oft als Krieg der „verbrann-
ten Erde“ bezeichnet. Der andere Krieg wird ebenso richtig mit „Befriedung“ übersetzt. Wahr-
scheinlich sind sich die Journalisten nicht bewußt, daß das Wort „Befriedung“ seine letzte Hoch-
konjunktur zu Kaisers Zeiten hatte, als SMSS „Hyäne“ und „Habicht“ usw. und Marine-Infanterie von Afrika bis Samoa ein- und durchgriffen, daß dann gemeldet werden konnte: „In Togo machte die Befriedung keine besonderen Schwierigkeiten.“
So übersetzt auch Theo Sommer in der ZEIT, was Henry Cabot Lodge ihm sagte: „Der nächste Schritt ist jetzt, die Befriedung wirklich in Schwung zu bringen.“ Und diese Übersetzung ist richtig. Allerdings, die Befriedungs-Methoden haben sich geändert seit Kaisers Zeiten. Damals war das Selbstbewußtsein der Weißen noch so barbarisch, daß koloniale Maßnahmen kaum der Rechtferti-
gung bedurften. Das hat sich geändert. Unsere Erben, die Amerikaner, müssen einen gewaltigen public-relation-Aufwand betreiben, um ihrem Krieg in der Weltöffentlichkeit ein ergreifendes Image zu verschaffen. Und es gelingt ihnen nicht! Wenn man einmal von der Bundesrepublik und vielleicht noch von Portugal, Südafrika und Südkorea absieht.
Joel Blocker, der Korrespondent von Newsweek in Paris, schrieb im Herbst 1966: „Drei von vier Europäern, mit denen ich in den letzten 12 Monaten sprach, haben die amerikanische Haltung gegenüber Vietnam heftig kritisiert.“ Aber der Korrespondent kann hinzufügen, in der Bundes-
republik finde Amerikas Krieg noch am meisten Unterstützung.
Für diesen Befund gibt es drastische Belege. Sie erinnern sich daran, daß de Gaulle Amerika verurteilt hat als einzigen Urheber dieses „ungerechten und verabscheuungswürdigen Krieges“. Und jetzt hören Sie, was unser Präsident, Heinrich Lübke, an Johnson kabelte, als er im Juli 1967 zum amerikanischen Nationalfeiertag zu gratulieren hatte:
„Zum Unabhängigkeitstag Ihres Landes übermittle ich Eurer Excellenz und der amerikanischen Nation meine und des deutschen Volkes beste Glückwünsche …“ Dann wünscht er „Kraft, Ge-
sundheit und Erfolg“ und kommt zum einzig konkreten Inhalt seiner Adresse: „Möge auch der gegenwärtige Kampf, den Ihr Land als Vorkämpfer der Freiheit gegen die Mächte der Unter-
drückung in Ostasien führt, von Erfolg gekrönt und es Ihnen bald vergönnt sein, sich aus-
schließlich Ihrem großen Friedenswerk zum Nutzen aller Völker der Welt zu widmen.“
Sollen wir einfach mit leicht gequältem Grinsen zur Kenntnis nehmen, daß unser Bundespräsident wieder einmal den unpassendsten Ausdruck gefunden hat? Ich glaube, es genügt nicht, Lübke nicht mehr ernst zu nehmen. Erstens übermittelt er ja solche Wünsche auch und ausdrücklich im Namen „des deutschen Volkes“; zweitens ist er hierzulande nicht allein, wenn er sagt, die Ameri-
kaner seien in Vietnam „Vorkämpfer der Freiheit“. Schließlich hat vor Lübke schon Erhard die Bombenangriffe auf Nordvietnam begrüßt, haben Erler und Jaksch und Guttenberg und Schröder und Leber und andere den amerikanischen Führern gesagt, was sie hören wollten: Position der Stärke, nicht zurückziehen wegen Kettenreaktion, feste Haltung, vorbildliche Erfüllung der Bünd-
nispflicht, Härte in Vietnam und in Berlin …
Daß unsere Leute Saigon und Berlin miteinander vergleichen als von Amerika garantierte Positi-
onen finde ich immer wieder merkwürdig: schließlich sind die Amerikaner in Berlin mit dem Willen und Einverständnis der Bevölkerung; wären sie in Berlin so fehl am Platze wie in Saigon, dann stünde es schlecht um Berlin.
Aber bitte, wenn unsere Politiker überm Ozean sind, dann nehmen sie’s offenbar nicht so genau. Hierzulande sprechen sie nicht über jenen Krieg. Das tun auf die wünschenswerteste Weise unsere großbürgerlichen Zeitungen. Die haben den Krieg in Vietnam von Anfang an so dargestellt, wie es das Pentagon wünschte. Die Vietkong wurden jahrelang als Rebellen bezeichnet. Und natürlich waren sie kommunistische Rebellen. Und Nordvietnam war der Aggressor. Südvietnam ein Pflanz-
gärtlein westlicher Demokratie. Die Amerikaner haben in all ihrem demokratischen Missionseifer das Versprechen gegeben, diesen schönen Demokratieversuch auf asiatischem Boden zu schützen gegen kommunistischen Terror und kommunistische Diktatur („Vorkämpfer der Freiheit“), also müssen sie jetzt eben wider besseren Willen einen immer scheußlicher werdenden Krieg führen.
„… mit erstaunlicher Nüchternheit und ohne viel ideologisches Pathos“, stellte ein SPD-Abgeord-
neter fest. Wem sie ihr Versprechen gegeben haben, wird nicht gefragt. Daß sie eine Regierung nach der anderen einsetzen mußten, um überhaupt eine Puppe zu haben, der sie was versprechen konnten, wird nicht erwähnt. Die Amerikaner haben ein Versprechen gegeben und das halten sie, auch wenn’s schwer fällt. So sind sie nun einmal. Daß die Amerikaner diesen Krieg nicht mit Be-
geisterung führen, gilt schon als Beweis dafür, daß sie ihn nicht verschuldet haben.
Theo Sommer (DIE ZEIT) im Juni 1965, als die Bombardierung Nord-Vietnams schon seit Mona-
ten im Gange war: „Sollten die Europäer wirklich so kurzsichtig geworden sein, daß sie nun in Asien mißbilligen, was ihnen selbst vor zwanzig Jahren das Leben rettete – eine amerikanische Rettungsaktion? Gewiß ist diese Aktion mit ungeheurem menschlichen Elend und Leid verknüpft. Aber wäre beides geringer, wenn die Amerikaner Vietnam einfach den Kommunisten überließen?“
Und Theo Sommer, ein voll professioneller politischer Beobachter und Journalist, hat auch die Eskalation brav begleitet und in jedem Stadium das rechte beschwichtigende Wort gefunden. Als eine andere Zeitung im Frühjahr 1965 meldete, die USA wollten ihre Streitkräfte auf 350.000 Mann erhöhen, schrieb Theo Sommer: „… solche Überschriften erwecken den irrigen Eindruck, die Amerikaner seien drauf und dran, sich auf ein zweites Korea einzulassen. In Wahrheit beabsichti-
gen sie nichts dergleichen. Ihre Eventualpläne sehen die Entsendung von 350.000 Mann lediglich für den recht unwahrscheinlichen Fall vor, daß chinesische Truppen einen massiven Angriff über den 17. Breitengrad hinweg nach Süden vortrügen.“
Inzwischen stehen 500.000 Amerikaner in Vietnam, ohne daß sich die Chinesen gerührt hätten.
Gestatten Sie mir, bitte, noch einen prominenten und ebenso peinlichen Rechtfertiger: Professor Dr. Klaus Mehnert. Er ist sogar Asienspezialist. In einem Vortrag vor Industriellen sagte er noch im Herbst 1966: „Ich meine, daß wir die letzten sein müssen, die den Amerikanern sagen: Geht heraus aus Vietnam; denn sie sind ja nicht dort, weil es ihnen Spaß macht, sie sind dort, weil sie Verpflichtungen eingegangen sind. Sie sind nicht dort, um sich eine Kolonie zu erobern, sondern weil sie glauben, daß im Gesamtrahmen der weltpolitischen Entwicklung ihr Durchstehen dieses abscheulichen Dschungel-, Reisfeld- und Sumpfkrieges unerläßlich ist. Das macht ihre Weltpolitik, auch wenn sie Fehler begehen, als Weltpolitik glaubwürdig. Wenn sie dort abziehen, wie groß ist dann die Glaubwürdigkeit ihres Einstehens in Berlin oder sonst irgendwo?“
Das also ist der Kreis, in dem diese Rechtfertigung sich dreht. Jetzt aber eine amerikanische Stimme. Der Pfarrer und Friedensnobelpreisträger Martin Luther King am 4. April 1967 in New York:
„Nach 1945 versagten wir neun Jahre lang dem Volk von Vietnam das Recht auf Unabhängigkeit. Neun Jahre lang unterstützten wir tatkräftig die Franzosen bei ihrem verhängnisvollen Versuch, Vietnam wieder zur Kolonie zu machen. Ehe der Krieg zu Ende ging, trugen wir 80 Prozent der französischen Kriegskosten. Schon ehe die Franzosen in Dien Bien Phu hoffnungslos geschlagen wurden, begannen sie an dem inneren Recht dieses Krieges zu zweifeln, wir aber nicht …“
„Nachdem die Franzosen geschlagen waren, sah es aus, als ob die Unabhängigkeit und Landreform durch die Abkommen von Genf nun erneut gesichert wären. Aber statt dessen kamen die Vereinig-
ten Staaten, die entschlossen waren, Ho das zeitweilig zerteilte Land nicht wieder vereinigen zu lassen; und die Bauern beobachteten, daß wir einen der übelsten modernen Diktatoren unterstütz-
ten, – den von uns ausgewählten Premierminister Diem. Die Bauern sahen zu und duckten sich, als Diem rücksichtslos jede Opposition ausrottete, die zurückgekehrten Großgrundbesitzer unterstütz-
te und es sogar ablehnte, mit dem Norden über die Wiedervereinigung zu verhandeln. Die Bauern sahen, daß alles dieses unter dem Druck des amerikanischen Einflusses geschah und dann durch die zunehmende Anzahl amerikanischer Soldaten, die kamen, um den Aufstand niederschlagen zu helfen, der entstanden war durch die Methoden Diems. Vielleicht waren sie glücklich, als Diem gestürzt wurde, aber die dann folgende lange Liste militärischer Diktatoren schien keine wirkliche Veränderung mit sich zu bringen – besonders hinsichtlich ihres Verlangens nach Landbesitz und Frieden.
Die einzige Veränderung, die eintrat, kam aus Amerika, als wir nämlich unsere militärische Hilfe zur Unterstützung von Regierungen verstärkten, die ganz einfach korrupt und unfähig waren und keinerlei Unterstützung im Volke hatten. Aber gleichzeitig lasen die Leute unsere Flugblätter und erhielten ein Versprechen nach dem anderen, daß es Frieden und Demokratie und Landreform geben würde. Jetzt sterben sie unter unseren Bomben, und sie sehen in uns, nicht in ihren vietna-
mesischen Landsleuten den wirklichen Feind. Mit zerschlagenem Herzen und teilnahmslos lassen sie es über sich ergehen, wenn wir sie aus dem Land ihrer Väter in die Konzentrationslager pfer-
chen …
Bis jetzt haben wir eine Million dieser Menschen umgebracht – meistens Kinder.“
Dazu noch eine Meldung: der Direktor des Studien- und Forschungszentrums für Kinder des Mercy Colleges in New York – das ist ein katholisches Institut –, William Pepper, berichtet, daß seit 1961 250.000 Kinder als Opfer dieses Krieges umgekommen sind.
Da würde ich gerne hinzusetzen: in Worten: zweihundertfünfzigtausend. Theo Sommer berichtete nämlich in der ZEIT, daß die Amerikaner anno 1965 im Durchschnitt 351.111 Dollar aufwenden mußten, um einen Vietkong zu töten. Und Theo Sommer fügt hinzu: „In Worten: dreihundertein-
undfünfzigtausendeinhundertelf.“ Entweder hat er dabei ans Scheckschreiben gedacht oder er fand, soviel sei ein Vietkong dann doch nicht wert.
Kardinal Spellmann sagte bei seiner Weihnachtspredigt anno 1966 in Saigon: „… diejenigen, die gegen uns kämpfen, haben nicht die geringste Achtung vor dem Menschenleben, während für uns Amerikaner das Leben des Menschen das kostbarste Gut ist.“
Dieser Kardinalssatz läßt vermuten, daß der Kardinal nur ein amerikanisches oder zumindest weißes Leben als menschliches Leben bezeichnet, sonst wäre der Satz angesichts der immer per-
fekter arbeitenden amerikanischen Tötungsmaschinerie purer Unsinn. Tatsächlich darf man vermuten, daß die Amerikaner, wenn sie sich demnächst in Latein-Amerika in einen Bürgerkrieg unter Weißen einmischen sollten, nicht so rücksichtslos bombardieren und töten werden wie sie das in Vietnam tun. Gelbe sind eben doch keine Weißen. An diesem Völkermord arbeitet sicher noch unser europäisch-barbarisches Herren-Bewußtsein mit. Und natürlich das zur Zeit des kalten Krieges aufgebaute Haß- und Verachtungspotential des kreuzzüglerischen Anti-Kommunismus.
Anders wäre die ekelerregende Stumpfsinnigkeit unserer Kriegshilfswilligen überhaupt nicht zu erklären. Hören Sie, was ein Heinz Barth in der WELT schrieb (23.9.1967): „Präsident Johnson will zweifellos den Frieden. Aber er will ihn mit dem richtigen Timing. Deutlicher ausgedrückt: Eine Lösung mehr als ein Jahr vor der amerikanischen Präsidentenwahl würde in ihrer Wirkung verpufft sein, wenn die Amerikaner im November 1968 an die Urnen gehen.Dagegen wäre ein Frieden, der sich früh im nächsten Jahr kristallisiert, ein ideales Timing für den Präsidenten.“ Und in der ZEIT (Schwelien) war zu lesen, daß Johnson mit der Bombardierung Nordvietnams genau in dem Augenblick begann, als seine Popularitätskurve den Tiefpunkt erreicht hatte. Will Theo Som-
mer uns auch jetzt noch eine „amerikanische Rettungsaktion“ weismachen? Nein, er will nicht mehr.
Er versucht zwar immer noch eine Darstellung der Kriegsursache im Pentagon-Stil, (die Ameri-
kaner hätten „den bedrängten Südvietnamesen ihre Hilfe nicht versagt“) aber dann schreibt er (1967), einigermaßen unerwartet: „Ehre, Freiheit, Demokratie wurden bemüht, um das amerika-
nische Engagement zu rechtfertigen, doch in Wahrheit ging es um reine Machtpolitik …“ Das ist erstaunlich bei einem Mann, der diesen Krieg vor zwei Jahren als noble Rettungsaktion darstellte. Aber um fair zu sein, muß man sagen, daß Theo Sommer jenen Satz von der Machtpolitik nicht uneingeschränkt stehen läßt, er fährt fort: „… Nordvietnam stilisierte den Partisanen-Krieg zum ,Modell’ für die nationalen Befreiungskriege unserer Zeit empor; da hatten die Amerikaner gar keine andere Wahl, als den Fehdehandschuh aufzunehmen und zu beweisen, daß sich der Parti-
sanenkrieg nicht auszahlt. Sie besaßen keine Alternative zum Engagement.“
Das ist der atemraubend stupide Kern aller Rechtfertigungen hierzulande: Wenn die Amerikaner hier nicht eingreifen, dann hat das verheerende Folgen in Asien, Afrika und Südamerika. Man nennt das die Domino-Theorie. Ein erschütterndes Bild für die Stabilität der amerikanischen Po-
sition in der Welt. So stabil wie aufgestellte Dominosteine. In Amerika hat man sich längst von diesem Schreckbild einer Theorie distanziert. Mary McCarthy: „Plötzlich will keiner mehr zugeben, daß er je ihr Advokat war.“
Bei uns schon. Bei uns rechtfertigt man lustig weiter mit dieser Theorie. Golo Mann, Historiker, wenn auch nicht Politik-Professor, hat für solche Theorien das Wort „Kommunismus-Irrtum“ geprägt; in einer Besprechung des Vietnam-Buches von A.M. Schlesinger bezeichnet er als Kom-
munismus-Irrtum „die Überzeugung, alles, was die Kommunisten irgendwo machten, werde von einem einzigen bösen Riesenhirn gelenkt, und daher sei, was mit den Kommunisten und gegen die Kommunisten irgendwo geschehe, auch für den ganzen Planeten verbindlich. Erfahren sie in Viet-
nam, daß es mit ,nationalen Befreiungs-Kriegen’ nichts ist, so wird es nirgendwo mehr ,nationale Befreiungskriege’ geben. Erlaubte man ihnen, in Vietnam zu siegen, dann würden die ,Domino-
steine’ in Kaskaden fallen, in Asien zuerst, in Afrika und Südamerika dann. Gegen diese wahrhaft phantastische Ansicht der Dinge gibt Schlesinger zu bedenken, daß, was immer in Peru oder in Uganda geschehen mag, aufgrund der Bedingungen an Ort und Stelle geschehen wird, absolut unabhängig von Vietnam.“
Daß da ein Land nach mehr als 20 Jahren Krieg gegen immer stärkere weiße Militärmacht, den Partisanenkrieg, zu dem es durch Unterlegenheit gezwungen ist, zum „Modell“ stilisieren möchte, das kann nur einem einfallen, der tatsächlich glaubt, die Aufstände in der Dritten Welt entstünden nicht etwa aus lokaler Not und langer geschichtlicher Erfahrung mit uns, sondern diese Aufstände seien lediglich von jenem „einzigen bösen Riesenhirn“ erdacht und befohlen; und die Leute in Peru und Bolivien und Venezuela und Vietnam sind nach dieser Denkgewohnheit einfach so töricht oder abenteuerlich, daß sie, anstatt ihr gesichertes Leben zu fristen, sich auf Befehl eines allgewaltigen Moskau oder Peking in einen schier aussichtslosen Kampf stürzen. Und das ist doch immer ein Bürgerkrieg! Ein Krieg im eigenen Land gegen die, die mit Hilfe Amerikas die grauenhaften sozia-
len Zustände so grauenhaft erhalten möchten, einfach weil sie ihr Geschäft damit machen. Martin Luther King hat diese historisch werdende Rolle Amerikas so bezeichnet:
„… in zunehmendem Maße – sei es absichtlich, sei es zufällig – ist dies die Rolle, die unser Volk zu spielen begonnen hat: die Rolle derer, die eine friedliche Revolution unmöglich machen, weil sie sich weigern, auf die Vorrechte und auf das Wohlleben zu verzichten, das aus den riesigen Gewin-
nen unserer überseeischen Investierungen fließt.“
Diese Rolle Amerikas wird immer mehr auch unsere Rolle. Wir sind eine Industrie- und Handels-
großmacht. Auch wir verbünden uns überall in der Welt lieber mit den überfälligen Schichten, auch wir machen unser Geschäft am liebsten mit den Oligarchien, mit den Diktatorenfamilien von Battista bis Palehvi. Wir schicken allerdings keine Truppen in die Welt. Das lassen wir die USA für uns tun. Aber warum tun wir’s eigentlich nicht? Der Militärexperte der FAZ, Adalbert Weinstein, berichtete aus Vietnam, junge amerikanische Offiziere rechneten dort fest damit, daß eines Tages Deutsche an ihrer Seite kämpfen werden.
Weinstein glaubt nicht so recht daran; seine Begründung ist interessant: die Weltöffentlichkeit würde sich darüber erregen. Und auch der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Dr. Er-
hard Eppler sagte nach einer Vietnam-Reise nicht, daß es einfach von uns aus ganz und gar un-
möglich und undenkbar und überhaupt nicht erwägenswert ist, deutsche Soldaten nach Vietnam zu schicken; er ist zwar sicher nicht für eine solche Expedition, aber er entschuldigt sich geradezu dafür, er begründet unsere Abstinenz damit, daß wir keine Weltmacht seien; wären wir eine, dann dürften wir also Soldaten schicken; auch er beruft sich hauptsächlich auf die öffentliche Meinung:
„Das Auftauchen deutscher Uniformen in Vietnam würde die Bundesrepublik in Asien zum amerikanischen Satelliten stempeln und überdies Wasser auf die Mühlen derer leiten, für die der Vietnamkrieg ohnehin ein Unternehmen des weißen Mannes gegen Asiaten ist.“
Nein, diesen Eindruck wollen wir wirklich vermeiden. Also schicken wir besser keine Truppen in die Welt. Die Vereinigten Staaten sind sowieso die beste Schutzmacht für unsere Geschäftspartner. Die USA sind wie wir daran interessiert, daß in den Ländern der Dritten Welt das Elend getauft wird, auf einen möglichst westlichen, freiheitlichen Namen; daß es unter Arbeitsvertrag genom-
men wird und beherrschbar und abhängig bleibt. Die revolutionäre Entwicklung, die überall aus solchem Elend resultieren möchte, wäre ein Strich durch unsere Rechnung. Ich hörte einen Di-
rektor, der vom Besuch einer argentinischen Filiale zurückkam, sagen: „Solange die Armee und die 7.000 Priester die Lage noch in der Hand haben, muß es uns um unsere Niederlassung dort nicht bange sein.“ Er kam sich, das sah man, bei diesem Satz nicht ironisch vor.
John F. Kennedy, der den Krieg in Vietnam gedeihen ließ, erkannte diese neueste Rolle Amerikas sehr genau: „Diejenigen, die eine friedliche Revolution verhindern, werden die gewaltsame Revo-
lution unabwendbar machen.“
So deutlich wird das in Amerika eingesehen. Aber die Amerikaner sind schon zu sehr Gefangene einer antikommunistischen Tradition, aus der sie sich wahrscheinlich mit genau so vielen Kriegen herausbluten müssen wie wir in Europa uns aus unseren früheren sogenannten Erbfeindschaften herausbluten mußten.
Die primitivsten Wortführer geben solchen Staats- und Gesellschaftskrankheiten immer den deut-
lichsten Ausdruck, deshalb muß ich noch einmal Kardinal Spellmann zitieren, und zwar noch ein-
mal aus seiner Weihnachtspredigt: „Ich glaube, daß der Krieg in Vietnam ein Krieg zur Verteidi-
gung der Kultur ist.“ Weihnachten ist für diesen Satz ein ebenso grotesker Termin, wie der ame-
rikanische Unabhängigkeitstag für den Satz Heinrich Lübkes, der Amerika in Vietnam als „Vor-
kämpfer der Freiheit“ feierte. Und das in einem Monat, in dem die USA mehr Tonnen Sprengstoff auf Vietnam warfen als in den wurffreudigsten Monaten des 2. Weltkriegs auf Deutschland. Hätte Lübke bei seinem Glückwunsch nicht auch an den Satz denken können, den Nehru auf dem Pe-
tersberg im Jahre 1956 sagte: „Es gibt nichts Gefährlicheres, als wenn ein Land mit Gewalt andern Ländern Gutes tun will.“
2. Folgerungen
Nein, meine Damen und Herren, unser Bundespräsident konnte nicht auf einen Satz von Nehru kommen. Das liegt wohl an der deutschen Auffassung von Verbundenheit, Bündnis, Freundschaft und Treue. Oder liegt es an unserer Wirtschaftsverfassung? Aber warum verhalten sich dann Län-
der, die uns ähnlich sind, so gänzlich anders? Schweden, zum Beispiel. Der schwedische Professor Gunnar Myrdal schilderte auf einer Stockholmer Tagung, die dem Vietnam-Krieg gewidmet war, daß er selber lange Zeit Gelegenheit hatte, Amerika kennen- und lieben zu lernen; er bezeichnete Amerika als seine zweite geistige Heimat; ihn als antiamerikanisch zu klassifizieren, sei völlig lä-
cherlich; das gleiche gelte für das schwedische Volk, in dem es keine Spur irgendeines grundsätz-
lichen Antiamerikanismus gebe; dennoch verurteile das gesamte schwedische Volk den amerika-
nischen Krieg in Vietnam; weder die Regierung noch die Oppositionsparteien würden es wagen, eine andere Haltung einzunehmen, weil dies den Gefühlen und den Ansichten des Volkes wider-
sprechen würde.
Und bei uns? Ein mächtiger und hilfswilliger Rechtfertigungs-Journalismus. Das Parlament stumm. Die führenden Politiker stumm. In Amerika liefern sie ab, was sie denken oder was, nach ihrer Ansicht, den Amerikanern am angenehmsten in den Ohren klingen muß. Und sonst? Ein paar Zeitungen berichten wirklich aus Vietnam. Ein paar Grüppchen betreiben „außerparlamentarische Opposition“. Und die Bevölkerung? Meinungsumfragen hätten ergeben, daß die Bevölkerung die-
sen Krieg mehr und mehr ablehne. Falls das stimmt, möchte man sich wünschen, daß diese Ableh-
nung endlich einen politischen Ausdruck findet.
Wir haben es schwerer als Schweden. Wir sind Amerikas engste Verbündete auf diesem Kontinent. Wir halten uns sogar für Amerikas engste Freunde. Vor allem: wir kommen nicht so leicht los von unseren Amerika-Gefühlen der Fünfzigerjahre. Amerika hat uns erzogen, aufgenommen, ausge-
stattet, aufgerüstet, hat uns gelehrt, die Welt in zwei Lagern zu sehen.
Dulles und Adenauer sind die Kirchenheiligen einer unheimlich einfachen Art, die Welt zu betrach-
ten; diese Art ist in uns allen erfolgreich geworden. Es war ja schön und angenehm, aus der Gewis-
sensgrübelei über die eigene Vergangenheit befreit zu werden durch den demokratischen Ritter-
schlag der größten demokratischen Gesellschaft.
Wir waren gleich wieder auf der Seite der Besseren. Drüben die Roten, die Diktatur, die Un-
menschlichkeit; hier die Vernunft, die Humanität, die Freiheit. Und der wirtschaftliche Erfolg. Und auch dieses sympathische Amerika. Ich habe es nie verstanden, warum man in der Welt vom „häß-
lichen Amerikaner“ sprach. Ich fand sie sympathisch. Ich fand, wir hatten ungeheuer Glück gehabt. Gerade noch das schlimmste Land der Welt, und jetzt gleich das Schoßkind einer Weltmacht, die überhaupt nicht agierte wie eine Weltmacht. Die besten Witze über sich selber machten die selbst. Bei denen konnte jeder was werden. Unsere Amerika-Reisenden staunten: der links neben dir an der Bar, war ein Arbeiter, und der rechts neben dir auch. Ja, über uns allen ging ein schönes, ein amerikanisches Zeitalter auf. Sie luden uns ein, von ihrer legeren Art zu profitieren. Nichts hatten wir nötiger.
Eine höchst wünschenswerte Zukunft stand dicht bevor: wir wollten lernen bei denen, praktische, bis tief in den Werktag und ins Bewußtsein eines jeden reichende Demokratie. Wir lernten nicht nur, wir büffelten, was sie uns aufgaben. Wir wollten ihnen gefallen. Wir wollten von allen Staaten, die bei ihnen in die Schule gingen, der beste sein. Ich war einen Sommer lang in Harvard mit Ver-
tretern aus 42 Ländern. Jedes Land mußte einen Abend geben unter einem bezeichnenden Titel. Wir waren drei Bundesrepublikaner. Wir einigten uns auf den Titel: The Conscientious Pupil. Das heißt etwa: der Musterschüler; vielleicht auch: der Streber.
Ja, das war eine schöne Zeit: lernen und arbeiten dürfen im Windschatten der humansten Groß-
macht, die es je gegeben hatte. Selber entstanden durch Revolution, und von da an die Zuflucht derer, die mehr Freiheit suchten als sie zu Hause kriegten. Dann haben sie Cuba von den mittel-
alterlichen Spaniern befreit. Den Kaiser besiegt. Hitler besiegt. Uns akzeptiert. Das war schon mehr als eine Hoffnung.
Aber dann stellten sich Nachrichten ein, die nicht in unser Amerika-Bild paßten. Es gab offenbar mehrere Amerikas. Das hatten sie selber auch nie verborgen. Aber welches Amerika machte jetzt die Politik? Welches gab den Ausschlag? Das war nicht mehr unser legeres, zur Selbstdurch-
schauung trainiertes Amerika. Die antikommunistische Hysterie in den Fünfzigerjahren konnte man noch schlucken. Sie brachten ja keinen um. Das wird sich geben.
Aber dann kamen die Nachrichten aus Guatemala, aus Venezuela, Bolivien, Peru, Santo Domingo, Cuba, den Philippinen und dann aus Vietnam. Erstaunliche Sätze hörte man aus dem Munde von Nixon, Goldwater, Rusk, McNamara, Johnson und anderen. Die Rassenunruhen wurden von Sommer zu Sommer schlimmer. Gut, das ist ein Problem Amerikas. Das fordert unsere ganze Teilnahme heraus. Aber das immer brutalere Auftreten der Weltmacht Amerika, mit der wir so befreundet sind, das ist auch unser Problem. Von Monat zu Monat gehört denen mehr von unserer Industrie. Und wir sind als zweit- oder drittgrößte Exportwirtschaft der Welt auch eine politische Macht.
Aber wir haben uns selber zum Satelliten gemacht. Aus Treuherzigkeit oder Befehlsempfänger-Routine behandeln wir das jeweils führende Amerika als das einzige überhaupt. Wenn Amerika einen Krieg gedeihen läßt, dann nennen wir seine Expeditions-Soldaten solange „militärische Berater“, bis die Amerikaner selber den Ton wechseln. Wir nennen sie „Vorkämpfer der Freiheit“, auch wenn wir wissen könnten, daß sie’s jetzt nicht mehr sind. Wir nehmen kaum zur Kenntnis, daß es das andere Amerika noch gibt, das gegen diesen Krieg in Vietnam protestiert und gegen die Kriegführenden arbeitet. Für uns gilt nur die Regierung, und die führt Krieg. Also rechtfertigen wir diesen Krieg, so gut wir es vermögen. Wir sind der atlantische Untertan geworden wie wir einmal der deutsche Untertan waren.
Mir hat ein Kriegsrechtfertiger während einer öffentlichen Diskussion zugerufen, gerade wir Deutsche hätten nach dem, was zwischen 1933 und 1945 passiert sei, keinen Grund, den Amerika-
nern Vorhaltungen zu machen. Ich finde, gerade wir müssen dem Amerika, das den Krieg führt, mehr als Vorhaltungen machen. Wir haben schließlich Erfahrung in Selbstverblendung und „Ar-
roganz der Macht“ (Senator Fulbright). So verständlich es ist, daß in unserem Land viele noch am trauten Amerikabild von 1955 hängen, so gefährlich ist das für uns und für Amerika. Schließlich sind auch die kriegführenden Politiker in den USA jenem trauten Amerikabild verfallen und halten sich für Freiheits- und Kulrurverteidiger, wo und wann immer sie ihre Bomben werfen.
Rund um den Globus wächst die Entrüstung über dieses Amerika. Bei uns aber wird jeder Stufe der entsetzlichen Eskalation ein klug tuendes Gutachten ausgestellt. Zur Rechtfertigung. Und dazu, daß wir diese allmähliche Perfektion des Völkermords schlucken ohne aufzustoßen. In Amerika fragen sich heute alle, die „Tauben“ und die „Falken“, wie konnte das geschehen? Wie sind wir da hineingeraten? Wann hätten wir Halt machen müssen? Wir haben nichts dazu getan, Amerika zu helfen.
Wir haben uns offenbar damit abgefunden, dieser Brutalisierung Amerikas als gedopte JA-Sager zuzuschauen. Eine Europäisierung unserer Politik ist schon gar nicht mehr vorstellbar. Obwohl dem besseren Amerika dadurch vielleicht noch zu helfen wäre im Kampf gegen den miesen und blutigen Texas-Stil. Aber was soll man noch hoffen, wenn unsere Politiker nicht einmal durch diesen scheußlichsten Krieg aus ihrer Gratulations-Routine aufgeschreckt werden.
Als Bundeskanzler Kiesinger von seiner ersten Kanzlerreise aus Amerika zurückkam, wurde er gefragt, ob er wie Erhard in Washington die „moralische Unterstützung“ der Deutschen abgeliefert habe. Kiesinger sagte: „Ich weiß nicht, wo die moralische Unterstützung aufhört und die politische beginnt. Ich hasse Halbheiten.“
Ich weiß nicht, angesichts dieser hochschlüpfrigen Slalomsprache, die jede Auskunft ebenso ver-
meidet wie jeden Anstoß, beginnt man sich fast nach Erhards schrecklichen Herztönen zu sehnen.
Ich finde, wir dürfen es unseren Politikern einfach nicht erlassen, auf den Vietnam-Krieg eine po-
litische Antwort zu geben.
Oder hat Golo Mann recht, der folgenden Rat gibt: „Ein höfliches trauriges Schweigen scheint mir noch die würdigste Haltung, welche westeuropäische Politik gegenüber der Vietnam-Tragödie einnehmen kann!“
Wie macht man das, „höflich und traurig“ schweigen? Und falls das alles ist, was westeuropäische Politik noch darf, wenn im Namen der „freien Welt“ Krieg geführt wird, also doch auch im Namen West-Europas, wäre es dann nicht besser, unsere Außenministerien aufzulösen und gleich alles einem Mr. Rusk zu überlassen?
„s’ist leider Krieg“, schrieb einmal Matthias Claudius, „– und ich begehre nicht schuld daran zu sein.“
Momentan gelten wir aber in der Welt als Helfershelfer der kriegführenden Johnsonregierung. Unser Parlament schweigt sich sorgfältig an jeder Haltung vorbei. Ist das Parlament dafür, daß die USA auch in unserem Namen Krieg führen? Ist die Regierung dafür, daß die Truppen in Süd-Vietnam „free world forces“ heißen? Warum liefern unsere Politiker ihre Zustimmung nur immer in Amerika ab? Warum schweigen sie hierzulande?
Falls Sie, meine Damen und Herren, auch finden, daß es nicht genügt, hierzulande zu schweigen und in Washington Claque zu spielen, dann bitte ich Sie, Ihre Unterschrift zu setzen unter fol-
genden Satz:
Ich ersuche die im Bundestag vertretenen Parteien, Vietnam auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu setzen.
Martin Walser
kürbiskern. Literatur und Kritik 1/68, München, 139 ff.