Materialien 1967
Aufruf bei der Protestdemonstration der Münchner Studenten am 5. Juni 1967 anläßlich der Ermordung des Berliner Studenten Benno Ohnesorg
In Berlin wurde der Student Benno Ohnesorg erschossen. Er war zum ersten Mal auf einer De-
monstration. Augenzeugen berichten, daß er keinen Polizisten bedroht hatte.
Es ist der zweite politische Mord in der Bundesrepublik. Der erste Mord geschah vor 13 Jahren, als ein Polizist den Arbeiter Philipp Müller in Essen hinterrücks erschoß. Müller war einer der 35.000 Demonstranten gegen die Wiederbewaffnung unseres Landes. Heute wie damals schrieb die Sprin-
ger-Presse von „randalierenden Berufsdemonstranten“, denen das Handwerk zu legen sei. Wir wis-
sen, daß die Demonstranten von damals und daß die Demonstranten von heute ihre demokratische Pflicht erfüllten. In Essen demonstrierten sie gegen die Restauration des deutschen Militarismus. Dieses Mal demonstrierten sie gegen einen Mann, der sich nur in einem terroristischen Polizeistaat an der Macht halten kann. Die Furcht dieses Despoten vor seinen eigenen Leuten versetzte unsere Städte in den Belagerungszustand. Die Bundesregierung benutzte unsere Polizei zum Schutze eines Diktators und zum Einsatz gegen die Demokraten, die gegen den Diktator demonstrierten. Der Schutz für einen Diktator wurde zur Diktatur des Schutzes. In wessen Interesse ist das geschehen?
Es sind immer die Gleichen: die den ersten Weltkrieg mit Gewinn überstanden haben; die den zweiten Weltkrieg brauchten und mit Gewinn überstanden; die heute Notstandspläne vorbereiten, um ihre Herrschaft durch eine Diktatur zu erhalten. Diese Herrschenden, deren Namen und Spu-
ren wir kennen, setzen sich heute zynisch über den Artikel 20 unseres Grundgesetzes hinweg. Die-
ser Artikel lautet: „Alle Gewalt geht vom Volk aus.“ Die Praxis dieser Herrschaft ist ein einziger Hohn auf diesen Artikel. Die Herrschenden unterstützen die amerikanische Aggression in Viet-
nam, den faschistischen Militärputsch in Griechenland und das Terrorregime des Schahinschah von Persien. In dem tödlichen Schuß eines Berliner Polizisten hören wir die Salven all jener Poli-
zisten und Soldaten, die sich auf nichts anderes als auf einen Befehl berufen können.
Wußte aber denn dieser Berliner Polizist, was er tat? Weiß er, in wessen Dienst er schießt?
Der wirklich Schuldige an diesem Mord ist die Nachkriegspolitik der CDU/CSU, der es auf nichts anderes ankam als die Bevölkerung unter dem Vorzeichen eines hemmungslosen Antikommunis-
mus politisch zu verdummen. Die CDU/CSU trägt die volle Verantwortung für die Restauration, den Rechtsradikalismus und alle antidemokratischen und polizeistaatlichen Tendenzen in unserem politischen Leben. Es ist höchste Zeit, diese Politik zu verändern. Es ist unsere Sache, diese Politik zu verändern. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um die Demokratie zu verteidigen und auszubauen.
Wir haben viele Gründe, unseren Regierenden zu mißtrauen. So beschimpft der bayrische Minis-
terpräsident Goppel die Demokraten, die gegen den Terror in Persien demonstrierten, vor allem aber dagegen demonstrierten, daß unser Volk keinem Diktator einen Jubelempfang bereitet. Die Bundesregierung wie der Ministerpräsident Goppel wollen, daß wir jubeln, so wie jene Jubelperser und Untertanen vor der Bayrischen Staatsoper, die doch nur deshalb die Sperren der Polizei durch-
brechen durften, weil sie sicher waren, so sicher. wie der persische Geheimdienst es wünschte. Das heißt doch nur: die Bundesregierung läßt unsere Polizei mit dem persischen Geheimdienst zusam-
menarbeiten, dessen Arbeit aus Bespitzelungen, Folterungen und der Bewachung von Konzentra-
tionslagern besteht. Ich bin überzeugt, dass die Bundesregierung vom Elend und Terror im Reich des persischen Autokraten informiert ist. Nach der Polizeiaktion mit dem Schah wissen wir, daß sie es mit der Demokratie überhaupt nicht ernst meint. Im Namen des ermordeten Studenten Benno Ohnesorg protestieren wir gegen den Zynismus der doppelzüngigen Politik der Bundesregierung. Im Gegensatz zur Bundesregierung gehört unsere Solidarität den Unterdrückten des Schahregi-
mes. Wir wollen keine Komplizenschaft mit einem Potentaten. Wir fordern hier auch alle Bürger unseres Landes auf, jene Regenbogenpresse zu boykottieren, die den schönen Schah von Persien und den bunten Staatsempfang der Bundesregierung feiern wird.
Der Mord an Benno Ohnesorg erfüllt uns mit Trauer, aber auch mit Zorn gegen die Politik der Bundesregierung. Es ist unsere Sache, daß es nicht so weitergeht. Der Demokratie unseres Landes, soweit sie überhaupt noch glaubhaft ist, wurde mit dieser gespenstischen Polizeiinszenierung für einen Staatsempfang ein Schaden zugefügt, dessen Folgen unabsehbar sind. Wir rufen alle Bürger dieses Landes auf, ihre politische Verantwortung wahrzunehmen. Wir brauchen politische Alter-
nativen, eine klare politische Orientierung und keine Vertuschung dieser Staatsaffäre.
Daher fordern wir:
1. Die Bundesregierung und die Verwaltungen der vom Schah besuchten Städte sollen eine genaue Aufstellung aller Kosten, die durch diesen Staatsbesuch entstanden sind, der Öffentlichkeit vorle-
gen. Wir wollen sehen, ob es nicht doch möglich ist, die Kosten für Staatsbesuche einzusparen, da-
mit die Preise für die Straßenbahn nicht steigen.
2. Die Fraktionen des Bundestags sollen eine Kontrollkommission bestimmen, die die Verwendung des dem Schah gewährten Kredits von 40 Millionen DM detailliert der westdeutschen Wähler-
schaft zur Kenntnis bringt. Denn dieses Geld ist unser Geld.
3. Die Fraktionen des Bundestags sollen eine ständige Kontrollkommission für Entwicklungshilfe wählen, die dafür zu sorgen hat, daß unsere Steuergelder nur für solche Entwicklungsprojekte ge-
währt werden, die wirklich dem Volk in den entwicklungsbedürftigen Ländern zugute kommen. Sie ist der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig. Wir wehren uns dagegen, daß mit unserem Geld der Apparat eines Polizeistaats finanziert wird. Außerdem soll diese Kommission kontrollieren, inwie-
weit die Interessen großer Konzerne in offenkundigem Gegensatz zu unserer Demokratie stehen. Wenn der Siemenskonzern zu Hause den Arbeitern die Effektivlöhne kürzt und in Persien seine Gewinne nur durch den Schutz des Schahregimes herausholen kann, so steht das im Widerspruch zu unserer Verfassung.
Wir fordern 4. im Namen aller Bürger und im Interesse eines ordnungsgemäßen Dienstes der Polizei die Einführung von Namensschildern für jeden Polizisten im Einsatz. Willkürakte von Seiten einzelner Polizisten können auf diese Weise rasch überprüft werden und schützen die Mehrheit der Polizeibeamten vor dem Ressentiment einer zu Recht aufgebrachten Bürgerschaft.
Und 5. fordern wir eine Bestrafung der Polizeibeamten, die bei der Berliner Demonstration von der Schußwaffe nachweislich in Willkür Gebrauch machten, sowie eine Untersuchung der polizeilichen Willkürakte beim Schahbesuch.
6. Die Berichterstattung der Springer-Presse über die Berliner Demonstration und den Mord an Benno Ohnesorg zeigt die ganze Fragwürdigkeit und die Gefahr dieses Pressekonzerns für die Demokratie. Die Vergiftung der westberliner Atmosphäre geht zu einem großen Teil auf die Springer-Presse zurück. Wir fordern deshalb von allen Bundestagsfraktionen und der Bundesre-
gierung, daß die gesamte Springer-Presse einer demokratischen Kontrolle unterstellt wird.
7. Wir machen die SPD darauf aufmerksam, daß sie in fast allen politischen Maßnahmen der Gro-
ßen Koalition als der Handlanger der CDU/CSU-Politik gilt. Für die SPD muß es eine deutliche Warnung sein, daß nach Noske und Zörrgiebel ein politischer Mord im Dienste der Reaktion in die unmittelbare Verantwortung eines sozialdemokratischen Oberbürgermeisters und Polizeipräsi-
denten fällt. Es ist höchste Zeit, daß die SPD eine eigene politische Konzeption entwickelt.
8. Wir rufen alle Bürger zum verstärkten Kampf gegen die verfassungsfeindlichen Notstandspläne der Regierung auf. Die Polizeiaktion für den Schah muß jedem die Augen öffnen, was in diesem Land mit Notstandsgesetzen der Bundesregierung praktiziert werden kann. Der Schuß auf Benno Ohnesorg darf nicht der Auftakt für zukünftige Schüsse betrieblicher Selbstschutztruppen auf streikende Arbeiter sein.
9. Wir unterstützen den Solidaritätsstreik der Studierenden aller westdeutschen Hochschulen am Tag der Beerdigung des Ermordeten und hoffen, dass sich die Hochschulprofessoren diesem Vor-
lesungsstreik anschließen werden.
10. Wir rufen alle Bürger, insbesondere aber alle Arbeiter, Betriebsräte und Funktionäre der Ge-
werkschaften zur Solidarität mit den streikenden Studenten auf.
Friedrich Hitzer
kürbiskern sonderdruck 3/67