Materialien 1966
Vietnam-Protest
Ich verurteile den Krieg, den die Vereinigten Staaten von Amerika in Vietnam führen.
Ich bestreite den Vereinigten Staaten das Recht, diesen Krieg zu führen im Namen der Freien Welt.
Ich schließe mich an den Meinungen Charles de Gaulles, Konrad Adenauers und des Weltkirchen-
rates, die das amerikanische Vorgehen in Vietnam als verfehlt bezeichnet haben.
Ich bestreite der Bundesregierung das Recht, dem Präsidenten der USA die Solidarität der Bun-
desrepublik zuzusichern, bevor der Bundestag sich dazu geäußert hat.
Ich ersuche die im Bundestag vertretenen Parteien, Vietnam auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu setzen.
(kk. – „Praktiker, Weltfremde und Vietnam“ lautete der Titel einer Rede, mit der Martin Walser am 27. September die „Vietnam-Protestausstellung deutscher Künstler“ in der Neuen Münchner Galerie eröffnete. Walser untersuchte die Haltung der Intellektuellen in der Bundesrepublik ge-
genüber der amerikanischen Einmischung in Vietnam – eine Haltung, die weniger einheitlich ist, als Pinscher- und Uhu-Rufe aus höchstem Mund glauben machen wollen. Über die Frage politi-
schen Engagements ist im 6. Heft des „Kursbuch“ sogar eine heftige Kontroverse zwischen Peter Weiss und H.M. Enzensberger ausgetragen worden. Enzensberger stellte dabei die Frage, ob „Solidarität ein Federschmuck für Intellektuelle“ sei. Walser kommentierte diesen Streit mit der Feststellung:
„Enzensberger hat in zwei seiner Kursbuch-Hefte viel Material zusammengetragen, das zu nichts anderem taugen kann, als den Standpunkt von Peter Weiss zu stärken – als aber Peter Weiss verlangte, Enzensberger selber möge sich doch ein wenig deutlicher machen, da zeigte der sich verletzt und rückte so weit von sich selber ab, daß er sich aus dem Auge verloren haben muß; denn von dort ruft er uns zu: Geht einmal nach Vietnam oder Peru und bringt zwanzig Jahre damit zu, einen revolutionären Krieg zu führen!“
Nach Hinweisen auf das „Wahlkontor“ der SPD und ihren prominenten Wahlhelfer Günter Grass unterschied Walser drei Verhaltensweisen unter den Schriftstellern: „Die blanken SPD-Kämpen, die sich – von Kompromißnarben bedeckt – für die Leibwache der Wirklichkeit selber halten müssen, zweitens der Bekenner, der verstiegen genug ist, den Kolonialismus Kolonialismus und den Imperialismus Imperialismus zu nennen( obwohl er doch auch weiß, daß es inzwischen Wörter gibt wie Entwicklungshilfe und counterpart-financing-system), drittens der skrupelreiche Zögerer, der der Wählbarkeit der SPD nichts hinzufügen kann und will, dem aber die SPD-CDU-Differenz momentan zu winzig zu sein scheint, als daß sich mehr als der Einsatz eines Kreuzes auf einem Zettel lohnt, der seiner Geneigtheit, bei fremden Völkern mitzufühlen, nicht nachgibt, weil er sein Mitgefühl von allzuviel Unvereinbarkeiten, Heucheleien etc. zersetzt sieht.“
Politische Relevanz erwächst diesen Haltungen durch den Krieg in Vietnam, den Walser „unseren Krieg“ nannte, damit auf die Legende vom Krieg der „freien Welt“ gegen den Kommunismus in Vietnam anspielend. Er beklagte den Mangel an zutreffenden Informationen über den Konflikt in Vietnam und wandte sich gegen das schönfärberische Bild, das „hundert hilfswillige Zeitungen“ täglich verbreiten. Die deutsche Publizistik stellte sich Walser folgendermaßen dar: „Auf der einen Seite Theo Sommer, der dem Krieg nur noch als Fachmann auf die Finger schaut, daß das Kausal-
zeremoniell gut gespielt wird, daß die Politik-Dramaturgie stimmt – auf der anderen Seite SPD-Wahlhelfer oder Enzensberger, die virtuos-bescheiden mit „Kleinkram“ operieren oder Nachrich-
ten mit geeisten Zangen weiterreichen.“
Die Folgen dieser mangelhaften Information sind deutlich: die Bundesrepublik ist – außer Por-
tugal und Spanien – der einzige westeuropäische Staat, der die Vietnam-Politik der USA vorbe-
haltlos billigt, weder in der Regierung noch in der Opposition werden Gegenstimmen laut. Laut Meinungsumfragen wächst zwar in der Bevölkerung die Ablehnung der amerikanischen Inter-
vention – politischen Ausdruck hat dieser Stimmungsumschwung bislang aber weder im Parla-
ment noch sonstwo gefunden.
Walser folgerte: „Deshalb – scheint es mir – ist es nötig, einzuspringen für diese SPD, einzusprin-
gen für Taktiker und Praktiker, und einfach kundzutun, daß die Bundesrepublik nicht nur aus hilfswilligen Claqueuren besteht. Da uns der politische Ausdruck durch unsere Gewählten fehlt, müssen wir uns selber ausdrücken.“ Zu diesem Zweck kündigte Walser die Gründung eines Büro für Vietnam an, dessen Aufgabe in einer verbesserten Information und der Durchführung einer Unterschriftensammlung zur obenstehenden Protest-Erklärung bestehen soll. Die Unterschriften-
sammlung soll über ein Jahr dauern: Photokopien der dann vorliegenden Listen sollen den politi-
schen Parteien und der Bundesregierung überreicht werden mit der Absicht, auf diese Weise eine Vietnam-Debatte im Bundestag zu veranlassen. Der „kürbiskern“ begrüßt und unterstützt diese Aktion nachdrücklich, Zustimmungserklärungen zu der Protesterklärung können an das „Büro für Vietnam, c/o Peter Milger, 6 Frankfurt am Main, Oberlindau 85“ gerichtet werden, das Büro ver-
schickt auch Listen zur Unterschriftensammlung.
kürbiskern. Literatur und Kritik 1/67, München, 114 f.