Flusslandschaft 1987
Lebensart
Gerade bei der „Linken“ wiederholen sich Klagen über den selbst durchgesetzten, herrschenden Hedonismus, der politische Positionen aufweiche, eine nur ironische Haltung zu herrschenden Politik bewirke und die Mehrzahl in der Bevölkerung zwar für autoritäre Lösungen bei politischen Entscheidungsprozessen immunisiert habe, die Mehrzahl in der Bevölkerung aber andererseits
nur noch segmentierte Interessen vertrete und dies nur, solange der „fun“ dabei realisiert werde. Scheinbar ist das Leitmotiv der Postmoderne „Anything goes“. Den Klagen der „Linken“ entspricht ein Aufatmen der „Rechten“, die mit der Postmoderne die erfolgreiche Antwort auf eine Kulturre-
volution sehen, die die herrschenden Leitbilder demontierte und „das Unterste zu oberst kehrte“. Das Schwarz-weiß-Schema verlassend meint Wolfgang Welsch: „… Daher ist postmodern ein Posi-
tionstypus ausgeschlossen; der absolutistische, der Alleinvertretungs- und Universalgeltungs-An-
sprüche erhebt … Der Postmodernist ist gegen derlei Anmaßungen überaus empfindlich geworden, aber er verwirft sie nicht einfach, sondern widerlegt sie, indem er ihren Widerspruch aufdeckt: den von faktischer Partikularität und beanspruchter Universalität.“1
„Wir erleben nicht mehr das Drama der Entfremdung, wir erleben die Ekstase der Kommunika-
tion. Und diese Ekstase ist obszön. Obszön ist das, was jeglichem Blick, jeglichem Bild, jeglicher Repräsentation ein Ende macht. Nicht allein das Sexuelle wird obszön, es gibt heute eine ganze Pornographie der Information und Kommunikation, eine Pornographie der Kreisläufe und Ver-
netzungen, der Funktionen sowie der Objekte im Zustand der Lesbarkeit, der Normierung – der Objekte mit ihrem erzwungenen Bedeuten, mit ihrer performativen Aktivität, mit ihren Verschal-
tungen, mit ihrer Polyvalenz, mit ihrem freien Ausdrucksvermögen. Es handelt sich nicht um die Obszönität des Verborgenen, des Verdrängten, im Dunkeln Liegenden, sondern um die des Sicht-
baren, des allzu Sichtbaren, dessen, was sichtbarer ist als das Sichtbare.“2
„zwölf Uhr mittags, die Menschheit in ihrem Zenit, WAS für ein Gedankenanstich, welch junger Spund stopft dies längst fällige Loch, bierschlegelt an die Quelle aller humanitären Entwicklung: das ERSTE FASS ROLLT, ja es ROLLT auch schon das zweite, dritte und wievielte, all die gstand-
nen Trachten, die festzuggepilgert sind zu diesem historischen Augenblick, rutschen wieder auf den Knien unter den Tischreihen, ob dieser kindlichen Entdeckung, die noch leeren Maßkrüge um-
gekippt zu den ersten bayrisch-ägyptischen Rollen, die werden, Auswüchse von pyramidalischen Räuschen bewegen, wie sich’s keiner vorstellen kann, die fünfte klassische Potenz macht uns end-
lich zu den Protzen, die wir schon immer sein wollten, vereinzelt erst, dann aus allen Ecken, die Rufe: Es ROLLT, Samstag mittag, zwölf Uhr, noch sechs Stunden bis zur Sportschau, die Mensch-
heit in ihrem Zenit,ein Prosit auf den, der sie erfand, die rollende Rundheit des Fasses, jetzt kön-
nen wir uns hinuntersaufen zum Abend, ein erstes Schöpfwerk von Kellnerinnen litert die stän-
dig sich umwälzende, in Fluss gehaltene Erkenntnis in alle Welt, selbst die schwärzeste RESER-
VIERT-Box im hintersten Festzelt-Teil muss es in sich hineinprosten lassen, Es ROLLT, die Bot-
schaft verbreitet sich auf Grund der Peristaltik des Theresienwiesn-Gedärms bis zum letzten Schausteller, und jeder wirft an sein ruckendes, surrendes, meistumdrehungenbringendes Ge-
schäft, allesamt Schleudern, die das Hirn an die Kopfinnenwand zentrifugieren, damit Platz wird für den Rausch, der letzte Rest an Hirnsaft ausgepresst aus der Schnabelöffnung redet … das rol-
lende Fass bringt alles in Gang, auch den letzten alles beendenden Feuerwerksknall, gestoppt wird diese Maschine erst vom letzten melt-down, wenn alle unter den Tischen zersaftet liegen, zwölf Uhr Mitdernacht.“3
(zuletzt geändert am 29.1.2021)
1 Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, 244.
2 Jean Baudrillard, Das Andere selbst, Wien 1987, 18 f.
3 Bernhard Setzwein: „Traum von der Wiesnmaschin“, in: Ders., Hirnweltlers Rückkehr, München 1987, 87 ff.