Flusslandschaft 1987

Militanz

Der Philosoph Günther Anders kündigt in der Zeitschrift natur seine pazifistische Position auf. Die gegenwärtige Lage müsse man als Notstand begreifen, daraus ergebe sich ein Recht auf Notwehr, sprich auf Gewalt. Eine Flut von Leser/innen-Briefen beharrt dagegen auf der gewaltfreien Positi-
on. Joseph von Westphalen springt Anders bei: „… Denkt man realpessimistisch eine Generation voraus, dann sieht man 2 Milliarden Verhungernde nebst 1 Milliarde Obdachlose vor sich (Opfer von Naturkatastrophen, die durch ökologische Gleichgewichtsstörungen entstanden sind): die Hälfte der Erde unbewohnbar, ein Drittel eine Skeletthalde. Kann durchaus sein, meine Herren. Vorstellbar, dass unsere Nachkommen mit demselben fassungslosen Entsetzen auf dieses Elend starren wie wir auf die geöffneten KZs starrten und immer noch starren müssen. Plötzlich ist das ganze grauenvolle Ergebnis unserer Wirtschaft evident. Ein Atomweltkrieg war gar nicht nötig. Ganz Brasilien eine Sahara, die Wälder Kanadas und Sibiriens bestehen nur noch aus verdorrten Baumstengeln. Vorstellungen dieser Art gehören ja nicht in den Bereich der Science Fiction. – Dann, wie wir einst unsere Eltern über die Nazizeit gefragt haben, die lästigen Fragen unserer Kinder: Was habt ihr eigentlich dagegen getan? Ach, Ihr habt dagegen angeschrieben! Das war ja nicht sehr wirksam; das werden unsere Kinder bald rausgekriegt haben, dass das geradezu zum guten Ton gehörte, damals in den 80er Jahren. Ja, und zivilen Ungehorsam haben wir geleistet, wegtragen ließen wir uns, mit Tränengas eingenebelt hat man uns, verklagt hat man uns, sagen wir kleinlaut mit glasigem Blick. Und dann sind wir schließlich so weit gegangen, Gewalt zu befürwor-
ten, sagen wir, obwohl das unter aufrechten Demokraten als ein besonders abscheuliches Delikt galt. Damit haben wir was riskiert, werden wir sagen, nämlich, dass man uns als gefährliche Irre ansieht, die, wenn sie schon nicht eingesperrt werden, zumindest keinen Job mehr kriegen wür-
den. – Unsere Kinder werden unsere Ausreden anhören und fragen, ob wir noch bei Trost gewesen waren … Es ist doch gar keine Frage, dass man ein paar Dutzend Kriminelle ins Jenseits befördern darf, wenn man damit ein Verhängnis abwenden kann … Wieso, fragen unsere begriffsstutzigen Nachkommen seitdem immer wieder, wieso habt ihr nicht rechtzeitig und besser geplant Gewalt gegen den Idiotismus der Staatsgewalt angewendet?“1

„ZWISCHENFALL BEI CSU-ABENDSTRAUSS GING IN DECKUNGCSU-Kundgebung gestern abend ab 20 Uhr im Münchner Salvator-Keller am Nockherberg. Franz-Josef Strauß ist gerade in Fahrt. Ein Mann springt auf, schleudert einen Gegenstand gegen die Rednertribüne. Dann noch einen. Ein Aufschrei bei den 3.000 Zuhörern. Strauß geht in Deckung. Ein Attentat? Nach einer bangen Sekunde wird klar: Der Unbekannte im Trachtenanzug hat einen Tennisball und ein Ei geworfen. Strauß und sein Parteifreund Erich Riedl richten sich wieder auf. Riedl hatte sich vor Strauß geworfen, um ihn zu schützen. Polizeibeamte nehmen den Werfer fest, bringen ihn ins Polizeipräsidium. Strauß hat sich schnell wieder in der Gewalt, mahnt seine Zuhörer: ‚Da sehen Sie, wohin es führen würde, wenn wir dem Gesindel die Macht überlassen würden.’“2

In der Nacht zum 1. September, dem Jahrestag des Überfalls auf Polen, zerstört die „Brigade schwarze Rose — Revolutionäre Zellen“ einige Kraftfahrzeuge vor der Kaserne der Bayrischen Bereitschaftspolizei, die auf dem Grundstück des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau steht.3

„6. November: Mit einem Schweigemarsch durch die Straßen der Stadt gedenken rund 2.000 Menschen, die meisten von ihnen Polizisten, zweier Polizeibeamter, die von vermummten Demonstranten in Frankfurt ermordet wurden. Bei einem Gottesdienst in der Theatinerkirche appelliert der Geistliche an die Bürger, ‚den Weg des Hasses und des Verderbens’ zu verlassen.“4 Der Tod der zwei Polizisten beendet die großen Protestmobilisierungen gegen die Startbahn West. – „10. November: Auf dem Gelände der Bereitschaftspolizei an der Rosenheimerstraße wird eine Gedenkstunde für die beiden Polizeibeamten veranstaltet, die am 2. November bei einer Demon-
stration an der Startbahn West in Frankfurt ermordet wurden. Innenminister August Lang betont, dass die Ereignisse in ihrer Abscheulichkeit keine Parallele in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik hatte.“5 – Die Ereignisse dienen als Begründung für weitere Initiativen zur Verschärfung des Demonstrationsrechts.6

Innerhalb der Münchner Szene kommt es zu lebhaften Auseinandersetzungen. Einige meinen, die tödlichen Schüsse seien „nicht aus unseren Reihen“ abgegeben worden, denn: Cui bono? Andere meinen: „… Die meisten AnarchistInnen sind sich heute einig, dass dieser Staat – wie jeder andere auch – durch eine gewaltsame Revolution beseitigt werden muss. Diese gewaltsame Revolution ist jedoch nur ein MITTEL zur Erkämpfung einer freien Gesellschaft, nicht der eigentliche INHALT des Anarchismus. In vielen Fällen hat sich Gewalt heute verselbständigt und wurde zum Selbst-
zweck …“7 – Wie immer in solchen Tagen verlagen Vertreter des Establishments ultimativ eine grundsätzliche Distanzierung von Gewalt. Teile der alternativen Szene lassen sich einschüchtern, andere meinen, man könne doch, wenn es um die Vorzüge der bürgerlichen Demokratie gehe, auch darüber reden, wieviel Bauern bei der Französischen Revolution ermordet wurden. Man dürfe doch auch mal darauf hinweisen, dass die Gründer des modernen liberalen Parlamentarismus ihre Feinde in verschlossenen Boten im Fluß versenkt haben. Die Geburtswehen einer neuen Gesell-
schaft seien nun mal, wenn die alte besonders rückständig und barbarisch war, häßlich und blutig. – Am häufigsten ist folgende Einschätzung zu hören: „… Terror darf nicht Mittel unserer Politik werden. Es ist zwar verständlich, wenn Menschen auf die ständige Unterdrückung, die Grausam-
keiten und Repressionen der Herrschenden mit blindem – wenn auch insofern gerechtem – Hass reagieren. Terror gefährdet jedoch die Revolution mehr als ihr nützt: Er trifft die am wenigsten Verantwortlichen. Unser Ziel ist es nicht, die Bourgeoisie dem Proletariat zu unterwerfen, sondern beide abzuschaffen …“8

(zuletzt geändert am 24.8.2020)


1 Joseph von Westphalen, Moderne Zeiten. Blätter zur Pflege de Urteilskraft 1981 — 1989. 2. Folge, Zürich 1989, 335 ff.

2 Bild-Zeitung vom 21. Januar 1987.

3 Vgl. freiraum — Die Zeitung aus dem Nichts 19 vom Herbst 1987, 39.

4 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Münchner Merkur 257, 1, 10.

5 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 260, 1, 10, 24.

6 Siehe „Demonstrationsfreiheit unter Mordverdacht“ von Rolf Gössner.

7 freiraum — Anarchistische Zeitung 20 vom Winter 1987, 23.

8 A.a.O., 25.