Flusslandschaft 1987

StudentInnen

In der Fachhochschule mobilisieren Kommilitoninnen und Kommilitonen für die Beteiligung an der Demonstration am 24. Januar auf dem Marienplatz, die am Tag vor der Bundestagswahl Franz Josef Strauß verhindern soll. Die studentische Vollversammlung der Uni beschließt per Akklama-
tion die Teilnahme an der Demo.1

„19. Februar: Im Bayerischen Landtag gelingt einer Delegation der ‚Studentischen Interessenge-
meinschaft für Münchner Hochschulanliegen’, zu der u.a. RCDS, Junge Liberale und Burschen-
schafter zählen, eine verbotene Demonstration. Sie breiten Bögen mit mehr als 5.000 Unterschrif-
ten gegen den Büchermangel in Staats- und Universitätsbibliothek an Leinen vor den Türen des Plenarsaals aus. Empfangen werden die Demonstranten von Staatssekretär Thomas Goppel vom Wissenschaftsministerium und zwei CSU-Abgeordneten, die dafür eine Missbilligung des Land-
tagspräsidenten ernten.“2

In der Vortragsreihe „Geschichte und Identität“ spricht im Februar Peter Glotz im überfüllten Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität. Sein Thema lautet „Wider eine zweite Restaura-
tion“. Studenten rufen: „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten!“ Glotz meint, ein „Haus der Geschichte“ sei dann sinnvoll, wenn es die richtigen Inhalte habe. Die Menge tobt; der Vertreter der Fachschaft Geschichte will die Veranstaltung abbrechen. „Diese differenzierte Betrachtungs-
weise vertrug sich offensichtlich nicht mit der Identität der Marxistischen Gruppe (MG), und man überließ sich zwanglos einem gruppendynamischen Prozess: Glotz wurde als Heuchler und Hetzer gebrandmarkt, er revanchierte sich mit Epitheta wie ,Dinosaurier der späten 60er Jahre‘, ,Affen‘ oder mit qualifizierenden Betrachtungen über Intelligenz und Lernfähigkeit seiner jungen, laut-
starken Zuhörer, wobei er als Kommunikationswissenschaftler annehmen durfte, dass dadurch die Bereitschaft, seine Botschaft aufzunehmen, nicht eben gesteigert wurde, Die nicht-marxistischen Studenten wiederum entdeckten bei den Vertretern der MG Faschismus, was Glotz aber zurück-
wies, weil damit das Ausmaß der Nazi-Verbrechen verniedlicht werden könnte.“ Dann umreißt Glotz in fünf Thesen „die Aufgabe der Linken im Hinblick auf die Restauration, die sie im Namen der Aufklärung zu bekämpfen habe. Dazu sei erstens Erziehung nötig, aber nicht so, dass sich eine Elite herausbilde, die ihre Differenz zum Volk festschreibe. Während der populistische Führer sich verewigen wolle, versuche eine linke Elite, sich durch ihre Erziehungsarbeit selbst überflüssig zu machen. Dabei sei – zweitens – die Einsicht entscheidend, dass Aufklärung durch den Willen zum Konsens auf rationaler Basis gekennzeichnet sei. Dieser Konsens werde auch durch Kompromisse erzielt. Diese Kompromisse seien – drittens – in bezug auf eine geschichtlich begründete Identität möglich, weil der Wunsch danach nicht von vornheiein als ,Hokuspokus‘ abgetan werden dürfe. Das Scheitern der Linken in der Weimarer Republik hänge auch damit zusammen, dass sie das Bedürfnis der Massen nach Symbolen nicht befriedigt habe. Gegen Habermas gerichtet bezog er sich auf Blochs ,Erbschaft dieser Zeit‘ (1935), in der dieser von ‚symbolfähigen Absichten‘ gespro-
chen und vor einem ,alles außer sich selbst vernichtenden Rationalismus‘ gewarnt habe. Der Tri-
umph des Nationalsozialismus sei die Quittung dafür gewesen, dass die Linke die Suche nach ge-
schichtlich begründeter Identität der Rechten überlassen habe. Restauration sei – viertens – daran zu erkennen, dass Geschichte zur nationalen Pädagogik werde. Vielmehr seien die unterschiedli-
chen Kontinuitäten herauszuarbeiten. So gehöre zur deutschen Geschichte auch der Widerstand gegen die Vorherrschaft der Bourgeoisie. Wenn – fünftens – anerkannt werde, dass die Suche nach geschichtlicher Identität berechtigt sei, dann müsse gefragt werden, woher, die ‚Bindungswirkung‘ von Traditionen käme. In der Gegenwart könne diese Frage vielleicht dadurch beantwortet werden, dass der deutsche Beitrag zur Suche nach einer europäischen Identität herausgestellt werde. Dies sei etwas völlig anderes als eine Identifikation mit dem Bismarck-Reich. Diese nachdenklichen Thesen wurden von einigen der Studenten als ausgesprochene Perfidie interpretiert. Sie sahen da-
rin nur den Versuch, den Revisionismus der Sozialdemokraten in Geschichte und Gegenwart jetzt auch noch auf den Umgang mit der Geschichte auszudehnen. Je differenzierter Glotz also argu-
mentierte, desto größer wurde die Entrüstung. Dem hielt auch seine Kampfeslust nicht stand, und gegen Ende der Veranstaltung empfahl er mehrfach seine Bücher, ursprünglich ironisch, dann aber mit einer gewissen Bitterkeit. Die Fachschaft will seinen nur teilweise gehaltenen Vortrag als Son-
derdruck herausgeben.“3

„27. Juni: Schätzungsweise 15.000 Studenten protestieren mit einem Demonstrationszug gegen den von Wissenschaftsminister Wild herausgebrachten Entwurf zur Novellierung des bayerischen Hochschulgesetzes (BHG). In Sprechchören und auf zahlreichen Transparenten fordern die Stu-
denten den Rücktritt Wilds und die Rücknahme des Gesetzentwurfes. In der Innenstadt kommt es wegen des Demonstrationszugs, der wie bei Studenten und Schülern heutzutage üblich zur Haupt-
verkehrszeit durchgeführt wird, zu einem totalen Verkehrschaos. Der Protest der Studenten be-
ginnt am Geschwister-Scholl-Platz mit einer Großkundgebung. Sprecher betonen. diese Novelle sei eine ‚bildungspolitische Sauerei der CSU’ und ein ‚Schlag ins Gesicht aller Frauen’. Vor allem die Gleichberechtigung der Frau spiegle sich in dem Entwurf überhaupt nicht wieder. Die Studenten ziehen durch die Innenstadt zum Sendlinger-Tor-Platz, der dann für eine halbe Stunde für den ge-
samten Verkehr gesperrt werden muss. Autofahrer beantworten das entstandene Verkehrschaos mit einem Hupkonzert.“4

„28. Oktober: Für den Erweiterungsbau der Fachhochschule München findet auf dem Grundstück an der Lothstraße in Anwesenheit von Ministerpräsident Strauß die Grundsteinlegung statt. Auf dem Gelände sollen in den nächsten Jahren zwei Gebäude mit insgesamt 14.000 Quadratmetern Hauptnutzfläche entstehen. Die Baukosten werden auf rund 90 Millionen Mark veranschlagt. Im südlichen Teil des Geländes entsteht auf 7.540 Quadratmetern ein Bau für die Fächer Versorgungs-
technik und Informationstechnik. Diesem Bau gegenüberliegend entsteht auf 5.400 Quadratme-
tern ein Haus für Mensa und Bibliothek. Ministerpräsident Strauß erklärt in einer Ansprache. der Bedarf an Ingenieuren werde im nächsten Jahrzehnt noch steigen, das bedeutet, die Fachhoch-
schulen füllten einen Platz aus, den niemand ersetzen könne. Der Bereich der Fachhochschule an der Lothstraße ist hermetisch von der Polizei abgeschirmt. ohne Einladungskarte ist es nicht mög-
lich, an den Ort der Grundsteinlegung zu kommen. Man wollte damit eventuellen Störern von An-
fang an das Handwerk legen. Jedoch gelang es zahlreichen Studenten zum Ort des Geschehens vorzudringen: Sie erbaten sich einfach nach den Kontrollen der Ehrengäste die Einladungskarten, sammelten sie und verteilten sie an wartende Kommilitonen. So wird Strauß verschiedentlich von Zwischenrufern bei seinen Ausführungen gestört.“5

„15. Dezember: Studenten der Bayerischen Hochschulen ziehen in zwei Demonstrationszügen mit jeweils rund 2.500 Studenten aus Protest gegen Pläne für neue Regelstudienzeiten in Richtung Maximilianeum zu einer ‚Landtagsumzingelung’. An den parallel zur Isar verlaufenden Straßen und am Max-Weber-Platz kommt es zu einem Verkehrschaos. Die erbosten Autofahrer begegnen den Parolen der Studenten mit einem Hupkonzert. Ein großes Polizeiaufgebot schirmt die Bann-
meile um den Landtag weiträumig ab. In Transparenten artikulieren die Studenten ihre Anliegen. So sprechen die Fachhochschule-Studenten ihre Sorgen aus, dass ihr Diplom künftig im EG-Be-
reich nicht mehr anerkannt wird.“6

(zuletzt geändert am 1.6.2020)


1 Siehe „Auf die Straße!“.

2 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 42, 1, 4, 24.

3 Süddeutsche Zeitung 45 vom 24. Februar 1987, 33.

4 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 144, 1, 4, 24; Stadtarchiv, Fotosammlung 4773 (hier: „26.6.87“)

5 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 249, 1, 4; siehe „Wenn jeder Student seine Semester damit verbringen würde, das Denken zu erlernen, dann würden wir alle sehr schnell in einer Sackgasse landen.

6 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 289, 1, 4; Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen.