Flusslandschaft 1987
Zensur
Nicht nur Drucker, Journalisten, Pressefotografen, Autoren, auch Buchhändler sollten jetzt wirk-
lich aufpassen! Drei Münchner Buchhandlungen, die Adalbert 14, der Tramplpfad und die Basis, erhielten Strafbefehle, weil sie einige Hefte der ,anarchistischen Zeitschrift Freiraum in ihrem La-
den hatten. „Schiebt der Staat die Linie seiner Zensur-VoPo’s (= Vorposten) vor? Sind Buchhändler vor Verkauf zum Lesen ihrer Ware verpflichtet? In besonderen Fällen schon, meint der Staatsan-
walt. Die Händler hätten es ,bei dem allgemein bekannten extremen Charakter der Veröffentli-
chung’ versäumt, sich ,zumindest einen groben Überblick über den Inhalt zu verschaffen’. Fazit: ,Fahrlässige Veröffentlichung.‘ Ab sofort könnten solche Vergehen mittels neu geschaffener Para-
graphen (oder: in modifizierter Form wiederauferwecktem Terrorismus-Paragraphen § 130a Straf-
gesetzbuch) noch schärfer, mit bis zu drei Jahren Gefängnis, verfolgt werden … Anwalt Hartmut Wächtler kritisiert die Schwammigkeit des neuen § 130a. Beispiel Chemiebuch: Wird es in einer normalen Buchhandlung verkauft, bestünde natürlich kein Grund zur Beanstandung. Wird es aber in einem Buchladen einer alternativen Bürgerinitiative angeboten, könnten andere Absichten unterstellt werden; beispielsweise könnte daraus ersichtlich sein, wie eine Bombe gebaut werden kann. Strafrechtlich entscheidend wäre die Gesinnung des Vertreibers. Dasselbe gilt für die Veröf-
fentlichung von Listen der Baufirmen, die an Wackersdorf beteiligt sind, was im Falle ,Freiraum’, aber auch in anderen Zeitschriften, geschehen ist. Der Staatsanwalt sieht ,Anstiftung zu Straftaten’. Dieselbe Liste in der AZ hätte vermutlich keine Folgen. Die liberale Tageszeitung dürfte vertrieben werden, die anarchistische Zeitschrift nicht. ‚Gesinnungsstrafrecht‘, rügt Wächtler. Derart fein zu unterscheiden soll Aufgabe der Buchhändler sein. ,Sie müßten einen hauptamtlichen Leser einstel-
len, der auch juristische Kenntnisse haben müßte’, gibt Wächtler zu bedenken. … ‚Vom Buchhandel wird gefordert, daß wir, bevor noch ein staatsanwalt über die strafrechtliche relevanz einer Veröf-
fentlichung entscheidet, selbst eine Vorentscheidung treffen und gegebenenfalls eine Zeitschrift nicht mehr verkaufen‘, meint Steffi Black, Geschäftsführerin der Basis-Buchhandlung … Gerade auf diese Selbstzensur scheint das Gesetz zu zielen. Linken, kritischen Buchhandlungen wird der Zahn gezogen, der ,politisches Engagement’ heißt. Eine offene Diskussion über Atomkraft, Gewalt und Terrorismus soll unterbunden werden. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels befürch-
tet zudem eine ,extensive Gesetzesaulegung, die das Recht auf Meinungsäußerung in unvertretba-
rem Umfang beeinträchtigen würde’. Grüne Politiker wie Norbert Mann bezeichnen der 130a als ,Zensurparagraphen’. Große Buchhandlungen mit rein ökonomischer Orientierung sind außen vor.“1
Am 6. Februar findet der Prozess gegen den Spion. Zeitung für München statt, in dem sich ein Artikel von Blockadeaktionen in Wackersdorf distanziert. Genau diese Distanzierung empfindet
die Staatsanwaltschaft als unehrlich.2
Am 2. Juli beschlagnahmt die Polizei in der Basis Buchhandlung fünf Exemplare des freiraum Nr. 15. Der Strafbefehl lautet über vierzig Tagessätze à 30 DM. Auch die Nr. 17 wird in der Basis, in der Adalbert 14 und im Tramplpfad beschlagnahmt.3
Joseph von Westphalen wohnt in München. Im Zeitmagazin vom 20. November schildert der Schriftsteller seine Erfahrungen mit dem Militärdienst, bezeichnet das Soldatentum als „ekelhaft“ und schreibt: „Lieber eine Plastiktüte mit Abfällen am Waldrand als ein Soldat.“ Ursprünglich war sein Text um einiges gehaltvoller. Westphalen: „… Ich schrieb, wie viele von uns das Anerken-
nungsverfahren als Kriegsdienstverweigerer als Zumutung erschien, wie die Militärzeit immerhin die Möglichkeit gab, Studien über die Abrichtbarkeit des Menschen zu machen und das System von Befehl und Gehorsam kennenzulernen, das ein sadomasochistisches sei. Es fänden unentwegt Ver-
gewaltigungen statt. Bezeichnend dafür sei, dass die Vorgesetzten in ihrer abscheulichen Landser-
sprache den Ausdruck ‚ich fick dich‘ verwendeten, wenn es darum ging, völlig unsinnige Befehle anzukündigen … Man sollte die Wehrpflicht abschaffen und ein Berufsheer als Auffangbecken für Abartige belassen. Die dürften die Kasernen nicht verlassen. Dort könnten sie ihre Unzucht trei-
ben, bis sie verrecken, dann wäre das Problem gelöst. – Die Wendung strich ich, dann schickte ich den Brief (an die Redaktion des Zeitmagazins) ab. Nicht geschrieben hatte ich, dass uns schon da-
mals als wahrer Feind niemals der vorgespielte Feind im Osten erschienen war, sondern immer die eigenen Vorgesetzten. Nicht geschrieben aus Gründen der inneren Zensur und weil es mir groß-
spurig vorkam hatte ich, womit wir uns damals moralisch über die Runden gerettet haben: dass wir im Ernstfall lieber einen eigenen General totschießen würden als einen angeblichen gegnerischen Soldaten.“ Die Antwort der Redaktion, das mit dem Ficken und der Unzucht könne unmöglich ge-
bracht werden. Westphalen verfasst daraufhin eine mildere Version, die gedruckt wird und eine Flut empörter Leserbriefe zur Folge hat. „… Man stieß sich schon an meinem geradezu pastörlichen Satz ‚Nichts versetzt mich so sehr in Trauer wie das Militär‘; man geriet ins Toben, dass ich die mi-
litärische Ausbildung euphemistisch als ‚Dressur‘ bezeichnet hatte …“ Auch die Herausgeberriege um Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt ist höchst ungehalten. „… Eben noch war ich der begehrte Autor gewesen, dessen kratzige Feder man für das Blatt gewinnen wollte, doch nun war mein Kurs über Nacht in den Keller gefallen. Theo Sommer soll mich als ‚dünnes Talent‘ bezeichnet haben. Von Helmut Schmidt sei nur ein Schnaufen, von Bucerius nur ein Grunzen zu hören gewesen … Das bislang letzte Mal sorgte mein antimilitaristischer Mülltütensatz für einen kleinen Wirbel, als im Frühjahr 1988 ein freier Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks ein Interview mit mir über meine Polemiken machte. Ich erzählte freimütig von der Wirkung meines Mülltütensatzes, weil ich gerne die Gelegenheit nutze, in der Öffentlichkeit die hartnäckig behauptete, legendäre Liberalität der ,Zeit‘ mit meinen Erfahrungen etwas in Frage zu stellen. Das sollte auch in den Rundfunkbei-
trag hineinkommen. Schließlich leiden die meisten freien Autoren unter Repressalien, da ist eine kleine Fallgeschichte immer aufschlussreich. Als die Sendung kommen sollte, und ich mit großem Ohr vor meinem Radio saß, um mir mein Gestammel anzuhören, tönte statt dessen das Telefon: Der Beitrag werde verschoben. Ein Justitiar des Bayerischen Rundfunks prüfe, ob der Satz ,Eine Plastiktüte mit Abfällen am Waldrand ist mir lieber als ein Soldat‘ gesendet werden dürfe. Aber der Satz käme doch hier nicht als Behauptung, sondern als Zitat, sagte ich. Dennoch! Vierzehn Tage später (am 11. März 1988) wurde die Sendung ausgestrahlt – ohne den zweifelhaften Satz. Statt dessen war rühmend davon die Rede, dass ich mir mit meinem Briefwechsel ‚durchaus nicht nur Freunde gemacht‘ habe. – Mit solchen ehrenvollen Floskeln wird nicht gespart, wenn es darum geht, vorlaute Kritiker pauschal zu entschädigen …“4
Tempo bringt in seiner November-Nummer Enthüllungen über die Geschäfte mit harten Video-Pornos. Die bayrischen Grossisten erklären Teile des Sexreports zur Pornographie, so dass das Blatt einen Monat lang in Bayern nur unter dem Ladentisch gehandelt wird. Ganz nebenbei ver-
schwindet damit auch ein in derselben Ausgabe gedruckter Bericht über die Verbindungen zwi-
schen dem Münchner Sender TV Weiß-Blau und Franz Georg Strauß, dem Sohn des bayrischen Ministerpräsidenten. Überschrift: „Strauß jr. – Alpen-Dallas im Bayernland.“
Siehe auch „Religion“ und „Das Deutsche Museum im Zangengriff“ von Ralf Schmitt.
(zuletzt geändert am 17.2.2023)
1 Abendzeitung 25/5 vom 31.1./1.2.1987, 7.
2 Siehe „Spion-Prozess“.
3 Vgl. freiraum — Anarchistische Zeitung 18 vom Sommer 1987, 6.
4 Deutsche Volkszeitung/die tat 42 vom 21. Oktober 1988, Düsseldorf, 3 ff.