Flusslandschaft 1988

Armut

„… Karlheinz Müller (Name geändert) (24), hat seinen Freunden ‚jahrelang Stories erzählt’. Der arbeitslose Sozialhilfeempfänger aus München hat ‚ganz bewusst versucht, das zu kaschieren’, weil er sonst fürchtete, ‚fallen gelassen zu werden’. Vorher war er freiberuflich auf Messen tätig, dann kam die Bundeswehr und dann die Arbeitslosigkeit. Seit ein paar Wochen arbeitet er jetzt zum ersten Mal wieder regelmäßig. Im Werkhof, einer von der Stadt München, der evangelischen Kirche und der Arbeiterwohlfahrt gegründeten ‚Beschäftigungsgesellschaft mbH’, die Langzeitarbeitslose wiedereingliedern will. ‚Ich stottere jetzt erst mal meine Schulden ab’, sagt Karl-Heinz: ,200 Mark im Monat.’ … Ob Angestellte oder Arbeiter, Jugendliche oder Eltern, Alleinstehende oder Kinderreiche, Obdachlose oder Eigenheimbewohner: Immer mehr Menschen im Land droht der Weg ins soziale Abseits. Die Arbeitslosigkeit ist der Einstieg in den Abstieg. Hunderttausende werden zu Aussteigern wider Willen, weil sie ihren ‚normalen’ Lebensstandard nicht mehr halten können. – Die soziale Not in der Bundesrepublik hat mittlerweile ein nie gekanntes Maß erreicht: 2,4 Millionen Arbeitslose. Dazu eine stille Reserve von 1,3 Millionen: Menschen, die statistisch nicht mehr zu Buche schlagen, weil sie resigniert haben und gar nicht mehr. als Arbeitsplatzsuchende gemeldet sind. Rund 800.000 Langzeitarbeitslose, die länger als ein Jahr ohne Job sind. Darunter besonders viele Männer ab 45, Jugendliche, Arbeitslose mit kinderreichen Familien, Ausländer, Behinderte. Das Risiko, arbeitslos zu werden und auch zu bleiben, ist sehr ungleich verteilt. Die Gesellschaft spaltet sich, der Sozialstaat verabschiedet sich. – Noch nie gab es in der Bundesrepublik, dem Land mit dem dritthöchsten Bruttosozialprodukt der Welt, so viele Sozialhilfebedürftige: Über drei Millionen Menschen in zirka 1,3 Millionen Haushalten sind nach offiziellen Zahlen auf Sozialhilfe angewiesen. Darunter ist jeder dritte Haushalt wegen der Arbeitslosigkeit auf das unterste Niveau abgerutscht. – Insgesamt hat sich die finanzielle Lage von immer mehr Arbeitslosen in den letzten Jahren seit 1980 drastisch verschlechtert. Schon ein Drittel der Arbeitslosen bekommt mittlerweile überhaupt kein Geld mehr von den Arbeitsämtern. Besonders hart trifft es die Langzeitarbeitslosen. Über die Hälfte von ihnen lebt von Arbeitslosenhilfe, sprich im Schnitt von 791 Mark (Stand 1986), vier von zehn Dauerarbeitslosen bekommen gar keinen Lohnersatz mehr, das heißt, ihnen bleibt die Sozialhilfe. Ursache für die schleichende Verarmung unter den Arbeitslosen und ihren Familien sind die Kürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung, die 1982, schon vor der Wende in Bonn anfingen und seitdem immer weitergingen … 84.000 Arme leben in München. Eine Mittelstadt der Armen in der Weltstadt mit Herz. Doch nur die wenigsten kommen so wie Georgine Bohlen aus dem Schatten der anonymen Armut hervor. Der ‚Stützpunkt’, eine Anlauf- und Beratungsstelle der Inneren Mission in München, hat der Mutter geholfen, sich wieder mit anderen zu treffen, über ihre Probleme zu sprechen …“1

Armut beschmutzt das öffentliche Stadtbild. Peter Gauweiler will das Bild bereinigen.2


1 Michael Linkersdörfer: „Der kurze Weg ins lange Elend“ In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 12 vom 10. Juni 1988, 10 ff.

2 Siehe „Obdachlose brauchen eine Wohnung und Geld zum Leben“.