Materialien 1974
Die Große Hure Schwabylon
8. November 1973: Als „erste Freizeitstadt“ öffnet das Schwabylon-Zentrum an der Leopoldstraße in München seine Tore. Hier scheint alles verwirklicht, wovon Stadtplaner und Sozialreformer seit Jahrzehnten träumen: Kommunikation, Urbanität, Arbeiten-Wohnen-Freizeit in engster Nachbar-
schaft, Veränderbarkeit der Nutzung. „München, die Weltstadt mit Herz“ hat „einen weiteren attraktiven Punkt, an dem Herz- und Pulsschlag nicht zu ertasten, sondern auch zu fühlen sind“. So der Bauherr Otto Schnitzenbaumer jun., Bauunternehmer in Augsburg, in einer Beilage zur „Süddeutschen Zeitung“.
Architekt für eine klassenlose Freizeitgesellschaft
Der Architekt des Freizeitzentrums, Prof. Dr. Justus Dahinden aus der Schweiz – international bekannt als Schöpfer „plastischer“ Betonkirchen, von Mövenpik-Restaurants und Urlaubsdörfern, aber auch als Autor von Büchern und Artikeln, in denen sich technische Utopie, Irrationalismus und der Lobgesang „westlicher Freiheit“ glücklos vereinen, liefert die passende Mode-Ideologie:
„Freizeitstädte gibt es noch nicht. Deshalb ist Schwabylon auch ein Experiment. Urbano-soziale Experimente sind notwendig; ohne sie gibt es keine städtebauliche Entwicklung. Städtebauliche Entwicklung heißt Verbesserung der Lebensqualität …
In einem relativ gesichtslosen Stadtquartier wurde auf einem ehemaligen Fabrikgelände ein Ort geschaffen, an dem gegenseitig ein ,Austausch’ vorgenommen werden kann. Dabei geht es nicht nur um den Konsum, sondern auch um das notwendige ,urbane Dabeisein’ … Um Schwabylon werden neben den bestehenden Büro- und Wohnhäusern neue Siedlungen entstehen … So rücken bei Schwabylon die Teilbereiche Wohnen, Arbeiten und Freizeit auf engem Raum wieder zusam-
men …
Das Freizeitverhalten ist als Wahlverhalten im Gegensatz zum Mußverhalten ein legitimes An-
liegen der Stadtbewohner; es kann aber nur in einem humanen, gefahrlosen, animierenden Mi-
lieu stattfinden. Der Wunsch nach Kulissenwechsel, nach mehr Farbigkeit im uniformen Grau unserer emotional unterkühlten Stadtlandschaft muß erfüllt werden …
Weil Schwabylon die städtebauliche Substanz von reintegrierten Gemeinschaftsbereichen hat, und weil Schwabylon ein Marktplatz des Lebens für alle Tätigkeiten in der ungebundenen, be-
freiten Zeit ist, darum ist Schwabylon eine Freizeitstadt.“
Zu seiner Fassade schreibt der Professor:
„Die aufgehende Sonne an der Stufenpyramide des Schwabylon soll mehr sein als bloße originelle Fassadengrafik. Hier soll die funktionale Zweckarchitektur durch einen übergeordneten künstle-
rischen Eingriff entfremdet und humanisiert werden. Das urbane Großsymbol einer kosmischen Zurichtung … soll einen Erwartungshorizont für alle, die die Erlebniswelt der Freizeitstadt Schwabylon entdecken wollen, schaffen.“
Und zum Innenraum:
„Das statische Grundskelett des ,Containers’ ist modular entwickelt worden: erfolgreiche Funk-
tionsbereiche können wachsen, weniger erfolgreiche können sich gesundschrumpfen …“
Hier ist man dabei; man nimmt teil, ohne zur Teilnahme gezwungen zu werden. Lebendig ist hier nicht nur die Vielfalt von Formen und Farben, sondern auch die Möglichkeit von permanenter Veränderung, Ausbau, Funktionswechsel. Schwerpunkte der integrierten Gemeinschaftsanlagen sind: die Eishalle, die Schwimmhalle mit dem Solarium und dem angeschlossenen Sauna- und Fitnessbereich; die Hauptgastronomie mit Biergarten und Seerosenteich; die Spielhalle sowie die Agora beim Haupteingang, das kleine Kulturzentrum. Wichtige Komplementärbereiche sind der Kinderhort, das Ärztehaus und all die vielen Läden und Boutiquen, die sich horizontal und verti-
kal um die Mall gruppieren …
Schwabylon soll ein Labyrinth sein für diejenigen, die auf Entdeckung gehen, aber auch gleich-
zeitig transparent für alle, die im sozialen Brennpunkt stehen wollen. Schwabylon soll eine klassenlose Gesellschaft ansprechen, wobei weder von der Planung noch von der Funktions-
teilung her Grenzen der inneren Zusammenhänge gesetzt sind.“1
Was sich bisweilen wie blühender Unsinn liest, faßt doch nur zusammen, was durch die Köpfe vieler Planer geistert, die soziale Probleme allein mit dem Zeichenstift lösen wollen. Es enthält aber zugleich etwas wie eine Vorahnung der „Gesundschrumpfung“, die das kommunikationsfreudige „Labyrinth“ in weniger als einem Jahr zur Geisterstadt und Spekulationsruine werden lassen wird.
Einige Daten: 156 Mio. DM Investitionen im Voranschlag, 370.000 Kubikmeter umbauter Raum, 52.000 Quadratmeter Nutzfläche, davon 10.000 Quadratmeter Shopping, 5.500 Quadratmeter Freizeit und Sport, 1.500 Quadratmeter Gastronomie, 15.500 Quadratmeter Tiefgaragen.
Ein Detail: Es gibt eine Apotheke, in der das Pillen-, Tropfen- und Salbenangebot durch Daten-
fernübertragung erweitert wird auf nahezu 50.000 Medikamente. Eben die Anzahl, die derzeit auf dem Markt erhältlich ist, damit kein Chemiekonzern zu kurz kommt.
Zur Eröffnung sind zehn Tage lang Münchner und Touristen aufgerufen, „diese ,Stadt in der Stadt’ aus der Taufe zu heben“. „Jeder soll mitmachen.“ „Die Menschen sollen Besitz nehmen von dieser ,Stadt in der Stadt’“, fordert Justus Dahinden.
Am ersten Wochenende werden 150.000 Besucher gezählt; die 1.000 geplanten Parkplätze sind noch nicht benutzbar; die Geschäftsleitung empfiehlt, die Autos in den benachbarten Straßen abzustellen; die benachbarten Wohngebiete, Bürgersteige, selbst Kinderspielplätze werden von PKWs blockiert; SPD-Landtagsabgeordneter Schmolcke schreibt einen empörten Brief an Ober-
bürgermeister Kronawitter und fordert mehr Parkplätze für Schwabylon; Schnitzenbaumer läßt die 1.000 Stellplätze fertigstellen und verlangt für 2 Stunden 1,50 DM Parkgebühr.2
Ein Bauherr steigt aus
Zwei Monate später, Mitte Januar 1974, werden zwei Boutiquen, „Top Shop“ und „Che Guevara“ (!), wegen Zahlungsunfähigkeit richterlich geschlossen. Sie können Handwerkerrechnungen nicht begleichen. Auch für die meisten anderen Läden des „Schlaraffenlandes“ ist das große Geschäft ausgeblieben. Die Münchner kommen zum Anschauen, allenfalls zum Schlittschuhlaufen, aber nicht zum Einkaufen. Schließlich muß alles bezahlt werden, was hier geboten wird. Die Mietpreise liegen zwischen 35 und 60 DM pro Quadratmeter. Schwabylon liegt zwar gut zur Autobahn, aber weit entfernt vom Zentrum Schwabings und abseits der Massenverkehrsmittel, ist anarchistischer Wildwuchs (nach dem Stadtentwicklungsplan von 1963 sollten solche Ballungen von Wohn- und Geschäftsbauten entlang der U- und S-Bahn-Linien konzentriert werden – aber Profit und Plan passen selten zusammen).
Am 19. Februar 1974 haben von den rund 100 geplanten und zum überwiegenden Teil schon einmal bezogenen Geschäften nur noch 44 geöffnet. Einige Geschäftsleute sollen ihre Mietzahlun-
gen bis zu 90 Prozent reduziert haben, weil die Anlage immer noch nicht fertiggestellt sei.
Otto Schnitzenbaumer aber ist bereits am 1. Januar 1974 aus der „Schwabylon Intercommerciale Verwaltungs- und Bau – Kommanditgesellschaft – Fonds 2000“ ausgestiegen. Er hatte die Schwa-
bylon-Idee gehabt, den Baugrund seit 1967 aufgekauft und 1971 für 25 Mio. DM zusammen mit dem benachbarten, bereits fertiggestellten Holiday-Inn-Hotel „mit Gewinn“ an den Fonds ver-
kauft; letzteres betreibt er seither als Mieter.
Die Investitionen stammten zur einen Hälfte von den etwa 5.000 Fonds-Zeichnern, überwiegend Kleinsparern, denen eine 6,5prozentige Rendite versprochen war, und zur anderen Hälfte über Hypotheken von der Hessischen Landesbank (Helaba).
Die kleinen Mieter und Sparer sind geprellt, von den über 660 Wohnungen stehen mindestens 30 Prozent leer, der Baulöwe hat sein Schäfchen ins trockene gebracht. Sein Augsburger Holiday-Inn-Hotel, die Marina-City-Kopie, hat er auf ähnliche Weise verkauft (50 Mio. DM). Er hat eine Reihe neuer Vorhaben in der Planung, darunter ein Holiday-Inn-Hotel und ein Commercial Center in Frankfurt, ein Eigentumswohnungsprojekt in Mainz-Marienborn, ein Holiday-Inn-Hotel auf den Seychellen, einer Inselgruppe nordöstlich von Madagaskar – zusammen ein Volumen von über 200 Mio. DM. Für Schwabylon ist Schnitzenbaumer nach wie vor optimistisch: „Er rechne mit der Bundesbank, die sich in der derzeitigen Konjunktursituation wohl etwas einfallen lassen müsse. Man habe Finanzierungsprobleme, aber keine Finanzierungsschwierigkeiten.“3
Wer trägt die Kosten für die Spekulationsruine?
Anfang Oktober 1974 sind neben der Eishalle und dem Schwimmbad nur noch sieben Geschäftsbe-
triebe in der „Freizeitstadt“ geöffnet, „allerdings unter dem Vorbehalt, daß sie nur noch eine sym-
bolische Miete von ein paar Mark entrichten“. Auch „Hauptmieter“ Otto Schnitzenbaumer ist mit seiner Miete für das Holiday-Inn in Millionenhöhe im Rückstand. Das geplante Gesundheits- und Facharztzentrum wurde „eigenmächtig an anderer Stelle errichtet und gehört nicht zum Fonds-Vermögen“. Der ursprünglich garantierte Fertigstellungspreis der Gesamtanlage von 156 Mio. DM wurde um mehr als 30 Mio. überschritten.
Nach den Kleinmietern schließen sich jetzt auch die Fondsteilhaber, in ihren Erwartungen ge-
täuscht, zu einer Interessengemeinschaft zusammen. Sie klagen beim Frankfurter Landgericht gegen die Helaba als Verkäuferin des Fonds und als Treuhandbank, die die Mieter und Fonds-
zeichner auf ein neues Geschäftskonzept zu vertrösten sucht (erwogen werden: weniger Bou-
tiquen, mehr Geschäfte für den Alltagsbedarf, ein neues Management, die Umgestaltung von Innerem und Außenfassade, selbst eine Namensänderung).
Bei der Helaba, an der als Gewährsträger zu je 50 Prozent das Land Hessen und der Hessische Sparkassen- und Giroverband beteiligt sind (die Spesen zahlen also Steuerzahler und Kleinsparer), kriselt es ohnehin seit Jahren: Ende 1973 muß ihr Präsident Prof. Wilhelm Haukel, der auch Privatgeschäfte mit Schnitzenbaumer hatte, „aufgrund riskanter Geschäftspolitik“ zurücktreten, der Vorstand ist seither nicht entlastet. Mit mindestens 40 Mio. DM Verlust trennt sie sich im Oktober 1974 von ihrer 36,4prozentigen Beteiligung an der Banque de Credit International (BCI) in Genf.
Wie immer die Helaba, deren Verwaltungsratsvorsitzender immerhin der hessische Ministerprä-
sident Albert Osswald (SPD) ist, mit der Schwabylon-Pleite fertig werden wird – der Traum vom Freizeitparadies und Gesamtkunstwerk vor der Wohnungstüre als Lösung der Wohn- und Städte-
baumisere ist ausgeträumt, noch kein Jahr alt. Die Kosten werden auf die eine oder andere Art jene tragen, für die die Mieten in Schnitzenbaumers Appartements ohnehin unerschwinglich sind.4
Wohnungen stehen leer
In München fehlen über 40.000 Wohnungen, 11.000 Dringlichkeitsfälle sind für Sozialwohnungen vorgemerkt. Zugleich stehen hier 18.000 Wohneinheiten leer: unverkäufliche Eigentumswohnun-
gen, von den US-Streitkräften mit Beschlag belegte, aber nicht bewohnte Häuser, Altbauten, die der Eigentümer leerstehen läßt, bis er die Abbruchgenehmigung bekommt, Sozialwohnungen mit Anfangsmieten von 5 DM und mehr, die von den Berechtigten nicht zu zahlen sind. In der BRD sind es nach Angaben des Zentralverbandes der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigen-
tümer mehr als 150.000.5
Ein Antrag der DKP an den Münchener Stadtrat, die leerstehenden Wohnungen sofort für die 11.000 Dringlichkeitsfälle zur Verfügung zu stellen, findet in der Bevölkerung breite Zustimmung. Zum Auftakt dieser „DKP-Aktion ‘73 – Für ein soziales Miet- und Bodenrecht“ wird im überfüllten Schwabingerbräu ein Spekulanten-Tribunal abgehalten und die Ballade „Münchner Kindl“ von Franz Xaver Kroetz uraufgeführt. Über 7.000 Einzelunterschriften werden gesammelt. Teilnehmer an Bürgerversammlungen und die Delegierten von 35.000 Gewerkschaftern sprechen sich für den Antrag aus. Am 20. Juli 1974 wird bei einer Kundgebung auf dem Marienplatz das Ergebnis be-
kanntgemacht. In einem entscheidenden Punkt unterscheidet sich dieser Antrag von den Profit-
sanierungs-Reformvorstellungen, die angesichts der Überproduktionskrise im Luxuswohnungsbau die herrschenden Parteien bewegen: „Die (neuen) Bewohner zahlen die gesetzlich festgelegte So-
zialmiete. Die eventuelle Differenz zur Kostenmiete (mehr dürfen die Bauträger nicht bekommen!) zahlt die öffentliche Hand aus einer Sonderabgabe der Konzerne nach Artikel 9 des Bayerischen Gemeindeabgabengesetzes, wonach die Nutznießer der öffentlichen Infrastrukturmaßnahmen diese Vorteile durch Beiträge an die Gemeinde auszugleichen haben.“6 Dieser Vorschlag ist sofort und ohne die Stadtkasse zu belasten, realisierbar: Man muß den Konzernen etwas nehmen, wenn man die Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen verbessern will.
Über 900 Architekten arbeitslos
Täglich neue Meldungen über Pleiten: Baufirmen, Bauträger, Banken, die sie finanzieren, geraten in Schwierigkeiten, haben an der Massenkaufkraft vorbeispekuliert. Auftragsrückgang, Rückgang der Baugenehmigungen, steigende Arbeitslosigkeit im Baugewerbe – dennoch steigen Boden-, Bau- und Mietpreise weiter. Sie werden von den großen Firmen gemacht, die sich den Markt kameradschaftlich aufteilen und Arbeitskräfte wegrationalisieren – auf der Strecke bleiben die kleinen Betriebe und die Bauarbeiter.
Nach Ende des Olympia-Booms ist München besonders betroffen: Im Juli 1974 sind 2.300 Baube-schäftigte arbeitslos (in ganz Bayern sind es 6.000). Die Zahl der Mitarbeiter in Architekturbüros nimmt in einem Jahr um 942 Personen (30 Prozent) ab. „Nur“ 586 melden sich beim Arbeitsamt – noch gilt hier Arbeitslosigkeit als Makel, der die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz erschwert. 40 Prozent der Büros haben keine Planungsaufträge.7
Ursachen für Entlassungen liegen zum Teil in der vorangehenden Überproduktion von Luxuswoh-
nungen, in der Preistreiberei im Boden- und Baugeschäft, die zum Rückgang des sozialen Woh-
nungsbaus führt, und in öffentlichen Sparmaßnahmen. Zum anderen Teil aber darin, dass die In-
haber großer Planungsbüros noch stärker als bei der Rezession vor sieben Jahren das so entstan-
dene Überangebot an Arbeitskräften nutzen, um die Intensität der Büroarbeit zu verstärken, un-
bezahlte Überstunden zu erpressen, die Ausbeutung der Angestellten auf ein neues Niveau zu heben, um Arbeitsplätze „überflüssig“ zu machen und Lohnkosten einzusparen. Deshalb wird sich auch bei einem zu erwartenden Aufschwung der Bauinvestitionen nach der Krise der Druck auf dem Arbeitsmarkt für Architekten nicht im gleichen Maße mindern. Immer notwendiger werden deshalb auch in diesem Bereich der Aufbau einer starken gewerkschaftlichen Interessenvertretung und der gemeinsame Kampf von Bauarbeitern, Angestellten, Ingenieuren und Architekten um Mitbestimmung und die Einschränkung der Macht der großen Bauherren.
Kein Podium für Systemveränderer
Der Stadtentwicklungsplan von 1963 und in seinem Gefolge die Verkehrs- und Flächennutzungs-
planung hat den Konzernen die Innenstadt und ihre Randgebiete erschlossen. Öffentliche Gratis-Vorleistungen (Schnellstraßen, U- und S-Bahn, Ausweisung von Kerngebieten, öffentliche Ge-
bäude) brachten ihnen hohe Spekulationsgewinne und vertrieben die Mieter an den Stadtrand (siehe tendenzen, Heft Nr. 82, S. 13 ff.).
Nun liegt der Entwurf eines neuen Stadtentwicklungsplanes vor, als dessen „Generalziele“ genannt werden:
a) Entwicklung einer polyzentrischen Stadtstruktur,
b) Verbesserung der Wohnqualität.
Um die Verwirklichungsaussichten dieser Generalziele einschätzen zu können, müssen wir die „Grundsätze“ beachten, die dem Stadtentwicklungsplan vorausgesetzt sind:
1. „Stadtentwicklungsplanung ist kein Podium für Diskussionen über Systemveränderungen.“
2. „Stadtentwicklungsplanung hat die Interessen aller Bürger dieser Stadt zu berücksichtigen, d.h. sie hat sowohl die Interessen der sozial Schwachen und der Mieter als auch in dem gebotenen Rahmen die der Grundstückseigentümer und der Unternehmer zu vertreten …“
3. Sie hat „allerdings gesellschaftliche Prioritäten zu setzen“. (Dann heißt es unverbindlich: Naherholungsbedarf, Chancengleichheit, Originalität, Bedeutung Münchens als Metropole, Lebensqualität usw.)8
Die Unvereinbarkeit der Interessen der Mehrheit der Mieter, der kleinen Geschäftsleute und Handwerker auf der einen, der großen Haus- und Grundbesitzer auf der anderen Seite hat wäh-
rend der Laufzeit des alten Stadtentwicklungsplanes zur Bildung einer starken Mieterbewegung geführt, die in einigen seit 1963 aufgewerteten Gebieten die Realisierung dieser Aufwertung durch die Konzerne stört. Trotz der Spaltungsversuche, einiger Zugeständnisse und der Intregationsbe-
mühungen der SPD wächst sie weiter und nimmt als Massenbewegung antimonopolistischen Cha-
rakter an. Die Interessen der „sozial Schwachen“ und der Mieter erfordern „systemverändernd“ die Verfügung des Großkapitals über die Stadt einzuschränken und zu überwinden. Wer dazu nicht bereit ist, kann Stadtplanung nur betreiben im Interesse und mit Hilfe des Großkapitals: Pläne und öffentliche Baumaßnahmen sind dann nichts anderes als unentgeltliche Vorleistungen, um die Investitionsneigung der Konzerne zu erhöhen. Gebaut wird nur, was Profit verspricht.
Die Zentralisierung der ganzen Stadt auf die Innenstadt (sternförmige Verkehrserschließung) soll also ergänzt werden zu einer „polyzentrischen Struktur“ durch die Aufwertung von „Stadtteilzen-
tren“. Diese sind an große Verkehrsknotenpunkte zu legen, ihre Einzugsbereiche „sind auf ihren Mittelpunkt hin durch öffentliche Verkehrsmittel zu erschließen, um ihre Zentralität zu erhöhen“ – heißt es im neuen Plan – „stadtteilbezogene Verwaltungs- und Dienstleistungseinrichtungen der öffentlichen Hand“ sollen entstehen. Die Einzugsbereiche der neuen Zentren aber sind so groß (80.000 bis 200.000 Einwohner), daß die Versorgungssituation in den Wohngebieten selbst nicht verbessert wird.
Ohne „Systemveränderung“ werden durch die „Stadtteilzentren“ die Sanierungsprobleme, die vorher nur die Innenstadt betrafen, auf das ganze Stadtgebiet ausgedehnt – wenigstens soweit die städtischen Mittel für die Vorleistungen reichen und deshalb die Konzerne mitspielen. Wo das nicht der Fall ist, bleibt die ganze Umstrukturierung Utopie.
Als zweites Generalziel nennt der neue Stadtentwicklungsplan die „Verbesserung der Wohnquali-
tät“, d.h. „weitestmögliche Erhaltung der Wohnbausubstanz. Anpassung an heutige Normen oder Standards entsprechend der Belastbarkeit der Bewohner“. „Anpassung an heutige Normen“ und „Verbesserung der Wohnqualität“ heißt im Kapitalismus schon immer: Ersatz billiger Altbauten durch teure Neubauten; neuerdings mit der Variante: „Altbaumodernisierung“ bei voller Umwäl-
zung der Kosten auf die Mieten. Wie belastbar sind die Bewohner? Wenn sie sich nicht wehren: unbegrenzt! Bei Überbelastung können sie ja ausziehen.
Zur Wohnqualität gehört auch die „soziale Infrastruktur“, die Ausstattung der Wohnviertel mit Schulen, Kindergärten usw. Der Stadtentwicklungsplan verspricht sogar den Bau von „Bürgerhäu-
sern, Stadtteil-Theatern, Alten-Service-Zentren, Freizeitheimen, Beratungsstellen“ u.a. und trägt damit den Forderungen, die die Bevölkerung immer massiver stellt, Rechnung.
Aber: „Ohne eine erhebliche Verbesserung der kommunalen Finanzmasse werden die für die Fi-
nanzierung des Investitionsprogramms 1974 – 1978 zur Verfügung stehenden Mittel nicht aus-
reichen, um die in Dringlichkeitsliste 1 vorzusehenden Maßnahmen durchzuführen. Für den Fi-
nanzaufwand des im September 1974 darüber hinaus geforderten quantitativen und qualitativen Ausbaues der Infrastruktur wird die Stadtkämmerei keine Deckungsmittel und -möglichkeiten aufzeigen können.“
Der Stadtentwicklungsplan sieht als einzige Möglichkeit, die finanzielle Lage der Stadt zu bessern, um vielleicht doch noch einige Ziele durchführen zu können, die Erhöhung des Anteils der Ge-
meinden am Steueraufkommen. Aber die gleiche SPD, die solche Forderungen von den Stadt-
kämmereien aus und unlängst wieder auf ihrem kommunalpolitischen Kongreß in Nürnberg erhebt, verhindert auf Bundesebene ihre Verwirklichung, weil sie an der Priorität der Rüstung festhält, in ihrer „Steuerreform“ nicht wagt, die Konzernprofite anzutasten, und nichts tut, um die 150 Mrd. DM, die sich in der BRD seit 1945 die großen Grundbesitzer an Spekulationsgewinnen angeeignet haben, einzuziehen.
Politische Säuberung im Planungsamt
Die im Stadtentwicklungsplan fixierte Absage an jede Veränderung des Systems wird ergänzt durch eine wahre Hexenjagd auf alle, die Stadtplanung ausgehend von den Bedürfnissen der Bevölkerung betreiben wollen, ja selbst gegen solche Planer und Wissenschaftler, die bei rein fachlicher Verfol-
gung von Stadtplanungsfragen auf die sozialen Widersprüche in diesem Bereich stoßen und sie namhaft machen.
Das wissenschaftliche Niveau auf dem Gebiet Städtebau ist in der BRD zwar noch sehr unter-
entwickelt – bis vor kurzem haben Hochschulprofessoren ihren Studenten noch beigebracht, Architektur und wissenschaftliche Arbeit seien unvereinbar, mit einer Doktorarbeit beweise ein junger Architekt nur, daß es ihm an der „wahren Berufung“ zum schöpferischen Gestalten fehle –, aber ohne ein Minimum an Forschungsunterlagen kommt auch hier heute keine Planungsbehörde mehr aus. Das Stadtentwicklungsreferat in München hat dafür allerdings keine Planstellen frei. Um z.B. den neuen Stadtentwicklungsplan vorzubereiten, werden deshalb Werkaufträge an frei-
schaffende Architekten, Soziologen, Psychologen und andere Wissenschaftler vergeben. Sie müs-
sen zumeist bereits vor der Vergabe des Auftrags – auf eigenes Risiko und zunächst unbezahlt – ihr Forschungsvorhaben entwickeln. Ihre Honorare – nach Tagewerken berechnet – entsprechen in etwa den Gehältern, die sie bei gleichem Arbeitsaufwand als Angestellte bekämen, aber ohne So-
zialleistungen und ohne irgendeine Sicherheit auf Anschlußaufträge.
Die Vergabepraxis des Stadtentwicklungsreferats ist nun durch einen zuerst geheim gehaltenen, im 12. September 1974 aber von OB Kronawitter (SPD) der Öffentlichkeit übergebenen Bericht des städtischen Revisionsamtes unter Beschuß geraten. Nicht wegen der Sittenwidrigkeit der beschrie-
benen Ausbeutungsmethoden, sondern wegen des Inhalts der Arbeiten! Da werden die abgeliefer-
ten eigenhändigen Schreibmaschinenseiten gezählt, da werden Rechtschreibfehler moniert, da wird nach Marx- und Engelszitaten in den Texten und nach DDR-Publikationen in Literaturver-
zeichnissen gesucht, um festzustellen, die Autoren benutzten „den städtischen Werkauftrag augenscheinlich als Gelegenheit, ihre politischen, überwiegend auf dem Gedankengut von Karl Marx fußenden Anschauungen … gegen Honorar zu Papier zu bringen“.9 Professor Detlef Marx, von der rechten SPD-Führung gegen den Widerstand der eigenen Partei vor kurzem zum Ent-
wicklungsreferenten berufen, kritisiert die Arbeiten, „die zwar für die Bundesrepublik interes-
sant sein mögen“, aber für den Münchner Stadtrat „kaum erdnahe Arbeitsgrundlagen“ abgeben könnten.10
In der Münchner „Vergabe-Affäre“ kommt das Dilemma zum Ausdruck, in dem sich kapitalistische Stadtplanung und sozialdemokratische „Reform“-Strategie zur Wissenschaft befinden: Man braucht sie zur „erdnahen“ staatsmonopolistischen Regulierung, aber man hat Angst, weil ihre Erkenntnisse die Überholtheit des Systems beweisen.
Die rechten SPD-Spitzen liefern mit ihrer gegen die Kommunisten, gegen die eigenen linken Ge-
nossen, gegen alle demokratischen Planer gerichteten Argumentation zur „Vergabe-Affäre“ der CSU die Munition, die sie für den bayerischen Landtagswahlkampf braucht. „Mit Vogel gegen Strauß löscht mit Benzin das Haus“, heißt es mit Recht im Aufruf der „Initiative Bayerischer Kulturschaffender zur Wahl der DKP“. Die Folgen der Hetzkampagne für die betroffenen Planer und Wissenschaftler kommen – zumal bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage – einem Berufsverbot gleich.
Spekulation durch Gesetz sanktioniert
Bis weit in die SPD-Mitgliedschaft hinein finden die von der Mieterbewegung vertretenen Forde-
rungen zur Kommunalisierung des Bodens oder zu anderen Formen seiner Vergesellschaftung Unterstützung. Die Erkenntnis, daß die monopolistische Verfügung der großen privaten Grund- und Hausbesitzer die eigentliche Ursache der Wohnungsnot und der Städtebaumisere ist, setzt sich immer breiter durch. Bekannter werden die Erfolge, die die sozialistischen Staaten bei der Beseiti-
gung der vom Kapitalismus ererbten Wohnungsnot erzielen, die Sicherheit, die dort die Mieter haben, ihre Wohnung zu behalten, die niedrigen Mieten in der DDR (monatliche Neubauhöchst-
mieten für Arbeiterfamilien 0,90 Mark je qm, in Berlin 1,25 Mark pro qm; siehe tendenzen, Heft Nr. 94, S. 56). Diese Erfolge gründen auf der gesellschaftlichen Kontrolle über Boden und Gebäu-
de, auf dem Volkseigentum an den Bauproduktionsmitteln, darauf, daß das Profitprinzip beseitigt ist und die arbeitenden Menschen die Macht ausüben.
Georg Leber sprach auf dem Städtebaukongreß der SPD 1969 von ein „paar Reformen“, die zur Systemerhaltung notwendig seien: „Wer den Willen zu den paar fälligen und notwendigen Re-
formen nicht aufbringt, der sichert und bewahrt nicht das Alte, sondern ob er will oder nicht, er bewahrt in Wirklichkeit nur die Steigbügel für künftige Revolutionäre.“ Mit dem spektakulär an-
gepriesenen Städtebauförderungsgesetz, das im Juni 1971 im Bundestag beschlossen wurde, ver-
sprachen die „Reformer“ der Spekulation in Sanierungs- und Entwicklungsgebieten zu Leibe zu rücken. In Wirklichkeit dient dieses Gesetz nur der weiteren Konzentration des Haus- und Grund-
besitzes in Ballungsgebieten.11 Allerdings kommt es in den wenigsten Fällen zur Anwendung: selbst die geringen Bundesmittel, die hierfür zur Verfügung gestellt werden (für die Jahre 1971 bis 1973 waren es ganze 450 Mio. DM), werden von den Gemeinden nicht in Anspruch genommen, weil sie die Gelder, die sie aus eigenen Mitteln dazulegen müßten, nicht aufbringen. Zig Millionen DM vermodern so in den Panzerschränken der Regierungen, bis sie verfallen. Im neuen Münchner Stadtentwicklungsplan ist aus dem gleichen Grund von „Sanierung“ überhaupt nicht die Rede, das Städtebauförderungsgesetz wird nicht einmal als Instrument zur Verwirklichung der verkündeten Ziele genannt.
In einigen Publikationen der letzten Jahre wird die Auffassung vertreten, der Widerspruch zwi-
schen dem zur Mehrwertbildung eingesetzten industriellen Kapital und dem privaten Grundbesitz, der sich – ohne eigenen Beitrag und ohne Risiko – einen Teil des Mehrwerts in Form der Grund-
rente aneignet, müsse zur vollen Durchsetzung des Kapitalismus durch die Verstaatlichung des Bodens gelöst werden. Jede Forderung nach Vergesellschaftung des Bodens noch während der Herrschaft des kapitalistischen Systems – in welcher Form auch immer – diene deshalb letztlich allein dem Kapital. Solche Auffassungen sind Seminar-Marxismus in reinster Ausprägung. Da sie die konkrete Rolle außer acht lassen, die die Bodenfrage im staatsmonopolistischen Kapitalismus und in den heutigen Klassenauseinandersetzungen spielt, verurteilen sie die Arbeiterklasse zu untätigem Warten auf den Sozialismus.
In der BRD besteht zwischen großem Grundbesitz und Finanzkapital weitgehend Personalunion. Man denke an den Baron von Finck mit seinen 20 Mio. qm Land, das täglich 1 Mio. DM Wert-
steigerung erfährt, mit seinem Bankhaus, seiner Beteiligung an weiteren Banken, an Versiche-
rungen, an Brauereien, Elektrizitätswerken und Industriebetrieben. Man denke andererseits an die zur Quandtgruppe gehörenden Bayerischen Motorenwerke – ihr Hochhaus am Olympiapark wurde schon erwähnt –, die Grundstücke im Wert von 20 Mio. DM nach dem Richtpreis von 1935 besitzen (ihr tatsächlicher Wert nach den Bodenpreisen von 1971 beträgt 600 Mio. DM).12 Die Industriekonzerne sichern sich überall die besten Bauplätze, um auf geänderte Produktions- und Marktbedingungen flexibel reagieren zu können. Und man denke an die großen Banken und Versicherungen, die ihre Profite in Haus- und Grundbesitz anlegen. Karl Marx spricht von der „ungeheuren Macht, die dies Grundeigentum gibt, wenn es, mit dem industriellen Kapital in derselben Hand vereinigt, dieses befähigt, die Arbeiter im Kampf um den Arbeitslohn praktisch von der Erde als ihrem Wohnsitz auszuschließen“.13 Das Großkapital ist der erbittertste Feind aller Bestrebungen, den großen privaten Grundbesitz anzutasten.
Bei der raschen und stetigen Entwertung des Geldes in allen Ländern des staatsmonopolistischen Kapitalismus verstärkt sich die Neigung der Hauptgruppierungen des internationalen Finanzkapi-
tals, „die Immobilienmanipulationen als einen bevorzugten Tätigkeitsbereich anzusehen“.14 Das betrifft sowohl britische Gruppierungen, die vor allem nach dem Beitritt Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt auf dem Kontinent im Grundstücksgeschäft aktiv werden, wie auch z.B. die Hollywooder Firma Metro Goldwyn Mayer, die beschlossen hat, die jahrzehntelange Tätigkeit im Filmwesen einzustellen und sich mit Immobilien zu befassen, wie auch die italienisch-amerika-
nisch-vatikanische Gesellschaft Generale Immobilare, die unlängst ihr Kapital zu verdoppeln vermochte.15 „… in rasch fortschreitenden Städten … (bildet) die Bodenrente, nicht das Haus den eigentlichen Grundgegenstand der Bauspekulation …“16 Das Großkapital ist heute allein in der Lage, große Grundstücke in den Städten zu erwerben. Es ist „in den meisten Fällen nicht allzu besorgt, wenn die (ihm) gehörenden Gebäude jahrelang leerstehen und keine Einnahmen bringen. (Es ist) überzeugt, daß (es) in letzter Instanz – in Kapitalform – eine Summe erhalten (wird), welche die Kapitalinvestitionen, und zwar in realem Ausdruck, um ein Vielfaches übersteigen wird.“17
Die Bodenbesitzer machen heute in der BRD nur ein Prozent der Bevölkerung aus – die Eigen-
heimbesitzer ausgenommen. 2,2 Prozent aller Bodeneigentümer (also 0,01 Prozent der Bevölke-
rung) besitzen mehr als ein Drittel der Wirtschaftsfläche und fast drei Viertel der Forstfläche.18 Der wirkliche Grad der Konzentration, zu dem auch die Verschuldung der kleinen Grund- und Eigentumswohnungsbesitzer über Hypotheken und Kredite zu rechnen ist, wird streng geheim-
gehalten. So lehnt z.B. der Stadtrat selbst den Antrag der Bürgerversammlung Maxvorstadt in München, über die Grundbücher den Grundstücksverkehr in den Innenstadtrandgebieten und in spekulationsträchtigen Vierteln zu beobachten, Preise und Namen der Käufer zu veröffentlichen, aus „rechtlichen und praktischen Erwägungen“ ab.19 Dennoch genügt es, mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen, um im Baugeschehen ihre Inbesitznahme durch das Großkapital wahrzuneh-
men.
Das Großkapital wehrt sich gegen alle Angriffe auf das Prinzip der privaten Verfügung über den Boden, mit seiner gegenwärtigen Verteilung ist es aber noch nicht einverstanden. Die kleinen Grundeigentümer, die ihre Grundstücke nicht zu Spekulationszwecken, sondern als Arbeits- und Wohnplatz selbst nutzen, hemmen seine Expansion. Daher die Forderung der Unternehmervertre-
ter (von der CDU/CSU bis zur SPD-Führung) nach mehr „Mobilität“ des Bodens: Solche kleinen Grundstücke, die in Gebieten liegen, welche durch einen Entwicklungs- oder Bebaungsplan einer höheren Nutzung zugeführt werden sollen, deren derzeitige Nutzung aber ihrem dann steigenden Wert nicht mehr entspricht, die den profitversprechenden Investitionen des in das Gebiet herein-
drängenden Großkapitals also im Wege stehen, sollen „beweglich“ gemacht werden. Ihre Besitzer, die aus eigenen Mitteln nicht in der Lage sind, die Aufwertung ihres Grundbesitzes durch entspre-
chende Baumaßnahmen zu realisieren, sollen der Verfügung über das Grundstück beraubt, d.h. zur Aufnahme fremden Kapitals, das dann die Nutzung bestimmt und die Gewinne einstreicht, oder zum Verkauf gezwungen werden.
Das ist der ganze – ökonomische – Witz des „neuen Bodenrechts“, an dem die Bonner Parteien seit Jahren basteln, und das im Städtebauförderungsgesetz seinen ersten Niederschlag fand. Seinen politischen Zweck erfüllt es, indem es als Voraussetzung zur Lösung des Wohnungsproblems unter Beibehaltung des privaten Eigentums, als Reform innerhalb des Systems, als Kampfmittel gegen die Spekulation ausgegeben wird, während doch tatsächlich den großen Spekulanten neue Mög-
lichkeiten erschlossen werden.
Zur Zeit beraten Bundestag und Ausschüsse über den Regierungsentwurf zur Novellierung des Bundesbaugesetzes.20 Hier haben sich SPD-Führung und Unionsparteien so weit angenähert, daß der Sprecher der „Opposition“, Oscar Schneider, feststellen kann, daß nunmehr die bodenpoliti-
schen Zielsetzungen der CDU/CSU in den Grundzügen des Regierungsentwurfes berücksichtigt seien.21
Kernpunkt der Novelle ist der „Planungswertausgleich“, der künftig als Gegenleistung für Auf-
wendungen der Gemeinden gezahlt werden soll: Wertsteigerungen von Grundstücken infolge kommunaler Investitionen und Planungsentscheidungen werden in Höhe von 50 Prozent „abge-
schöpft“, und zwar „in einem Gebiet, das für die Gemeinde einen Bebauungsplan aufgestellt, geändert oder ergänzt hat“ (Paragraph 135a,1). Der Ausgleichsbetrag wird spätestens fällig „nach Verwirklichung einer dem Bebauungsplan entsprechenden baulichen oder sonstigen Nutzung (Paragraph 135a,3).
Mit ihm wird den Gemeinden eine neue Finanzquelle erschlossen, ihr Vorkaufsrecht und ihre Enteignungsmöglichkeiten werden erweitert. Aber die Vorteile des größeren Handlungsspielrau-
mes der kommunalen Planungsbehörden kommen allein den Großeigentümern und finanzkrä-
ftigen Interessenten zugute. Sie haben die Mittel, die von der Gemeinde durch Wahrnehmung des Vorkaufsrechtes oder Enteignung erworbenen Grundstücke aufzukaufen, denn die Gemeinde ist nach Paragraph 26 und Paragraph 89 zur Veräußerung verpflichtet. Sie haben die Möglichkeit, den Planungsausgleich auf die Mietpreise zu überwälzen oder beim Verkauf des Grundstückes dem Kaufpreis zuzuschlagen.
Durch Paragraph 39 b-c erhält die Gemeinde umfangreiche Rechte, die Verwirklichung der Fest-
legungen eines Bebauungsplanes durch Baugebot, Nutzungsgebot, Abbruchgebot, Modernisie-
rungsgebot von den Kleineigentümern zu erzwingen (die Großen machen bei der Aufwertung ihres Eigentums ohnehin mit!). Wer diesen Geboten aus eigener Finanzkraft nicht nachkommen kann, darf „von der Gemeinde die Übernahme des Grundstücks verlangen“, kann zugunsten der Ge-
meinde oder „zugunsten eines Bauwilligen“ (!) enteignet werden, wenn er nicht durch Aufnahme von Fremdkapital seinen Besitz praktisch ebenfalls verlieren will.
„Mieter, Pächter und sonstige Nutzungsberechtigte haben die Durchführung“ dieser Gebote „zu dulden“ (Paragraph 39 f), wenn es sein muß, auch durch die Aufhebung ihres Miet- oder Pacht-
verhältnisses (Paragraph 39 g), zumindestens aber Mieterhöhungen bei Modernisierungen und anderen „Anpassungen“ an die Bestimmungen eines Bebauungsplanes (das ist auch der Inhalt des im Oktober verabschiedeten sogenannten „Zweiten Wohnraumkündigungsschutzgesetzes“, von dem demagogisch behauptet wird, es erhebe den Kündigungsschutz zum Dauerrecht!).
Dies ist alles selbstverständlich nur erlaubt, soweit es „im öffentlichen Interesse erforderlich ist“ (Floskel in fast jedem Paragraphen). Wird damit wenigstens die Spekulation, d.h. die private Aneignung von Wertsteigerungen, zu deren Zustandekommen der Steuerzahler alles, der Eigen-
tümer aber weder Arbeit noch Kapital noch auch nur eine schlaflose Minute beigesteuert hat, ein-
gedämmt?
Nein: Mit Einführung des Planungswertausgleiches werden Boden- und Mietpreiswucher und Spekulation – verfassungswidrig – durch ein Gesetz sanktioniert. Die Beschränkung der Aus-
gleichsabgabe auf Gebiete, für die begrenzt ein Bebaungsplan aufgestellt wird, erschließt erst recht in benachbarten, praktisch mitaufgewerteten Gebieten neue Profitquellen. Die Baugesetznovelle macht den Boden zugunsten seiner weiteren Konzentration „mobiler“ – nur durch die volle Ein-
ziehung aller Spekulationsgewinne bei gleichzeitigem Mietstopp und uneingeschränktem Kündi-
gungsschutz, nur durch die Einschränkung und schließlich Beseitigung des privaten Großgrund-
besitzes, und das ist gleichbedeutend mit der Zurückdrängung und Überwindung der Macht des Großkapitals, kann der Weg zur Lösung der Wohnungsnot und der Krise im Städtebau freigemacht werden.22
Über Details wird noch gestritten: Nach welchem System soll die Wertermittlung für den Aus-
gleichsbetrag erfolgen? In dieser Frage mögen noch Feinheiten stecken, die die Höhe von Spe-
kulationsgewinnen beeinflussen. In der Sache aber sind sich SPD/FDP und CDU/CSU einig.
Wenn da ein Sozialdemokrat kommt wie der Stadtrat und stellvertretende Vorsitzende der Münchner SPD, Siegmar Geiselberger, und in einem Thesenpapier23 erklärt, Spekulation ent-
springe notwendigerweise dem privaten Eigentum am Boden und an den Produktionsmitteln, und dieses müsse aufgehoben werden – konkrete Schritte auf dem Weg dorthin bleibt er freilich schuldig, weil er die Rolle des Großkapitals nicht einzuschätzen weiß –, dann bricht die inner-
parteiliche Entrüstung mit voller Wucht auf ihn herab. Die CSU kann sich ins Fäustchen lachen: Der Landesvorstand der SPD beantragt ein Parteiausschlußverfahren gegen Geiselberger, auf Antrag der SPD entkleidet ihn der Stadtrat aller Ehrenämter und Funktionen.24
Ein BDA-Manifest
Im November 1973 verfassen zwölf namhafte westdeutsche und Westberliner Architekten ein Manifest „für Architektur“. Es wird vom Bund Deutscher Architekten (BDA) herausgegeben. Darin werden die wachsende Häßlichkeit der gebauten Umwelt, ihre Unmenschlichkeit und Hoffnungs-
losigkeit in harten Worten gegeißelt. Als Ursachen dafür werden u.a. genannt: „… Weil mit gerin-
gerem Aufwand mehr Gewinn zu erzielen ist … Weil die Interessen des einzelnen höher bewertet werden als die der Gemeinschaft … Quantität mehr gilt als Qualität … weil architektonische Ge-
staltung nicht unter die sozialen Aufgaben gerechnet wird …“ Architektur könne „nicht einseitig an ökonomischen Maßstäben technischer Perfektion oder pseudo-sozialem Bezug gemessen werden“. Deshalb fordern die zwölf „von allen, sich gegen die Verweigerung von Qualität der Gestaltung zu wehren, gegen die Menschenverachtung der gebauten Massenware zu protestieren, nicht länger auf Architektur zu verzichten“.
Zum erstenmal rührt sich das Unbehagen an der kapitalistischen Stadt in etablierten Architek-
tenkreisen, Symptome werden richtig beschrieben, ein kultureller Anspruch an die gebaute Um-
welt wird erhoben. Die Einengung des Blickwinkels auf die formale Gestalt der Stadt aber läßt weder die gesellschaftlichen Bedingungen noch reale Wege zur Veränderung erkennen. Architek-
ten, die die Stadt wirklich menschlicher machen wollen, müssen sich auf die Seite derer stellen, denen in der kapitalistischen Gesellschaft jeder kulturelle Anspruch verwehrt wird, müssen ihr Wissen und ihre Fähigkeit aktiv einbringen in die antimonopolistische Bewegung.
Beispiel: BMW und das Olympische Dorf
Die Vorbereitung der Olympiade 1972 schenkte München einen einzigartigen Bauboom. Baufirmen und Planungsbüros strömten herein, Bauträger und Spekutanten nutzten ihre Chance. Eigentums-
wohnblöcke schossen empor – der soziale Wohnungsbau kam wegen der Grundstückspreise fast völlig zum Erliegen. Hauptbaustelle war, rund um den Fernsehturm, der Olympiapark mit Sport-
stätten und Wohnanlage. Abweichend vom Stadtentwicklungsplan wurde er an U- und S-Bahn und das Schnellstraßensystem angeschlossen.
Ein Hauptnutznießer war die Firma BMW (Hauptaktionär Dr. Herbert Quandt, 16 Prozent Divi-
dende und 400.000 DM Aufsichtsrats-Tantiemen 1972), die genau an dieser Stelle ihr Hauptwerk stehen hat und sich vom Wiener Stararchitekten Karl Schwanzer nun ein Turmhochhaus für die Verwaltung entwerfen ließ: 18 Stockwerke für 2000 „Mitarbeiter“, Höhe 99,5 Meter wie die Türme der Frauenkirche, Baukosten etwa 100 Mio. DM. Rechtzeitig fertiggestellt, an der Spitze mit einem riesigen Firmenzeichen versehen (es war nicht genehmigt; BMW mußte ein paar tausend DM Strafe zahlen; aber als es abmontiert wurde, war die Olympiade schon zu Ende), stand es der Jugend der Welt und den Besuchern der Sportstätten als überdimensionale Litfaßsäule stets vor Augen.
Den Bauträgern des olympischen Dorfes wurde öffentlicher Grund weit unter dem Verkehrwert überlassen, um kostengünstige Wohnungen erstellen zu können. Sie bauten, die Nachbarschaft des olympischen Freizeitbereiches und die einmalige Verkehrserschließung nutzend, Eigentumswoh-
nungen aller Größen und mit allem Komfort. Ursprünglich vereinbarten sie mit dem Staat einen „Basispreis“ von 1.247 DM pro Quadratmeter, auf den sie die Hälfte des Prozentsatzes der nach diesem Zeitpunkt eintretenden Lohnkostensteigerung im bayerischen Hauptbaugewerbe auf-
schlagen dürfen, um den „durchschnittlichen Höchstpreis“ zu erzielen. Die Verkaufspreise stie-
gen in vier Jahren auf über 2.000 bis 2.300 DM pro Quadratmeter. 1973 aber stellt das bayrische Finanzministerium in einer waghalsigen Rechnung fest, die Wohnungspreise seien „vertragskon-
form“: nach Angaben des statistischen Landesamtes betrüge die Lohnkostensteigerung 95 Prozent (als ob die bayerischen Bauarbeiter ihren Lohn in vier Jahren verdoppelt hätten!), der Durch-
schnittspreis aller bis 1. August 1973 verkauften (nicht der angebotenen!) Wohnungen liege nach den Preislisten der Bauträger (!) mit 1.836 DM immer noch unter dem vertraglich zulässigen von 1.839 DM.
Tatsächlich waren ein Jahr nach dem Auszug der Sportler am Ende der Olympiade von 2621 zum Verkauf stehenden Wohneinheiten erst 1.145, also knapp 43 Prozent verkauft! Unbewohnt sind zusätzlich solche Wohnungen, deren Käufer sie als Geldanlage nutzen wollen, aber keine Mieter finden. Immerhin muß der Käufer oder Mieter monatlich pro Quadratmeter noch ein Wohngeld von 2,50 bis 3 DM drauflegen für Allgemeinkosten, an denen die pneumatische Müllentsorgungs-
anlage und die überdachten Autostraßen und Parkplätze ihren Anteil haben. Aus den unverkauften Wohnungen entsteht den Bauträgern eine jährliche Zinsbelastung von 20 Mio. DM. Auch die Neue Heimat konnte von 400 Appartements, die sie zur Segel-Olympiade in Kiel baute, erst 31 an den Mann bringen.
Mit 14 Jahre lang zins- und tilgungsfreien Aufwendungsdarlehen aus dem Regionalprogramm des Bundes wird nun versucht, doch noch Käufer für die bedrängten Bauträger zu finden: Sicherung von Spekulationsgewinnen aus Steuergeldern.5
Beispiel: Kaufhof am Marienplatz in München
Seit 1965 wurde die Münchner Innenstadt für den individuellen und den Strassenverkehr neu erschlossen, die Gesamtstadt verkehrsmäßig auf die Stadtmitte konzentriert (Altstadtring als Schnellstraßenring, Fußgängerzone vom Rand der Altstadt bis zu ihrem Zentrum, dem Mari-
enplatz, wo sich U- und S-Bahn kreuzen). Die Auswirkungen auf die Innenstadtrandgebiete (Grundstückspreisentwicklung, Aufkauf durch Versicherungs- und andere Konzerne, Mieter-
vertreibung) wurden in tendenzen Nr. 82, S. 13 ff. geschildert.
Die gesamte Altstadt wurde nun interessant für das Großkapital. Die Herren des Kaufhofkonzerns erkannten im Marienplatz, wie einer von ihnen unvorsichtig erklärte, den „besten Kaufhausstand-
ort Europas“, zahlten 11.000 DM pro Quadratmeter Boden und bauten.
Durch derart verkehrsgünstige Lage ziehen Großkaufhäuser einen großen Teil der Massenkaufkraft aus dem ganzen Stadtgebiet an. Der kleine Einzelhandel aus den Wohngebieten wird ruiniert, die Versorgung der Wohnbevölkerung in vielen Stadtteilen verschlechtert, Kaufhauskonzerne diktie-
ren die Preise. Unter Stadtplanern geht das Gerücht um, daß unter den Fittichen der Kaufhäuser der Einzelhandel neu erblüht. Das mag für Juweliere und andere Geschäfte des „gehobenen Be-
darfs“ gelten, die die hohen Mieten zahlen können, der Milchmann nahe der Wohnung aber geht pleite – und die Behörden grübeln, wie er zu „verrenten“ sei, damit er nicht so deutlich merkt, wie er vom Großkapital enteignet und genauso verschaukelt wird wie seine proletarischen Kunden.
Vor der Eröffnung des Kaufhofs entstand, angeheizt durch die Münchner Presse, eine heftige Diskussion in der Öffentlichkeit über seine Fassade. Man nannte sie ein „Betongrusikal“ (obwohl sie ganz mit Naturstein verkleidet ist), das nie in die Altstadt passen könne, und ihren Architekten „Ramses den Geschmacklosen“. Der Streit um die Ästhetik war erwünscht, lenkte er doch ab von den sozialen Wirkungen des Kaufhauses – und von der Bürgerinitiative gegen das Europäische Patentamt, die zur gleichen Zeit aktiv wurde (siehe tendenzen Nr. 82, S. 7 ff.). Die Kaufhaus-
konzerne lassen sich die Fassaden von angesehenen Architekten planen (im Fall Marienplatz vom Professor für Denkmalspflege an der TU München!), die dann als Sündenböcke herhalten müssen.
Schließlich macht so ein Rummel das Kaufhaus bekannt. Die Eröffnung des Kaufhofs, zu der auch Torwart Maier vom FC Bayern erschien, war ein Geschäftsschlager. Um weiter im Gespräch zu bleiben, ließ der Konzern in der darauffolgenden Zeit die Fassade durch großformatige Ansichten von Alt-München schmücken. Seither ist der Vorschlag im Gespräch, einen Wettbewerb zur Verschönerung der Fassade auszuschreiben.
Für die massenhafte Zulieferung von Kunden durch die öffentlichen Verkehrsmittel zahlt der Kaufhof keinen Pfennig. Beharrlich weigert sich der Stadtrat, entsprechend der Gemeinpflich-
tigkeit des Eigentums nach dem GG und den Anträgen von Bürgerversammlungen die Konzerne, die aus öffentlichen Investitionen Nutzen ziehen, an den Kosten zu beteiligen. Dafür werden für die arbeitende Bevölkerung die Verkehrstarife erhöht.
Schwabylon und die allgemeine Krise des Kapitalismus
Die Krise im Wohnungs- und Städtebau, die Preistreiberei auf dem Bau-, Boden- und Mietsektor, die wachsende Stärke der Mieterbewegung sind kein Zufall. Inflation, wirtschaftliche Schwierig-
keiten, verschärfte Klassenauseinandersetzungen kennzeichnen heute alle Lebensbereiche in allen Ländern des Kapitalismus. Dabei handelt es sich nicht nur um eine zyklische Überproduktions-
krise, sondern vielmehr um eine Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus, die offen-
bar in eine neue Phase eingetreten ist. In ihr nimmt die Unterentwicklung der Infrastruktur, der Lebensbedingungen in den Städten einen wichtigen Platz ein. Dafür ist die Stadt München mit ihren Sanierungsproblemen, mit ihren leerstehenden Wohnungen und arbeitslosen Architekten ein typisches, kein extremes Beispiel. „Erfolgreiche Funktionsbereiche können wachsen, weniger erfolgreiche können gesundschrumpfen“ – mit dieser Maxime des Profitsystems hat Prof. Dahin-
den sein Schwabylon-Freizeitzentrum empfohlen: Elf Monate später ist diese kapitalistische „Alternative“ zum „komplexen Wohnungsbau“ der DDR zusammengebrochen.
Die Krise ist nicht „weltweit“, wie die Zeitungen des Kapitals schreiben – Wohnungswesen und Städtebau erleben wie die ganze Volkswirtschaft in den sozialistischen Staaten eine stabile, kon-
tinuierliche Entwicklung. Und die Krise wurzelt auch nicht in einem „unkontrollierten ökono-
mischen Wachstum“, dem die Sozialdemokraten das Schlagwort von der „Qualität des Lebens“ entgegenhalten.
„Die Krise ist eine ökonomische Krise der Stadt. Sie wird dadurch genährt, daß die Zuwachsrate des Sozialprodukts, des Konsums und des Ertrags das ausschlaggebende Entscheidungskriterium für die Entwicklung der Städte darstellt. Die Städte werden so mehr und mehr zu anonymen Pro-
duktions- und Dienstleistungsmaschinen, aus denen alles weichen muß, was der Wachstumsmaxi-mierung im Wege steht“, erklärt Hans-Jochen Vogel 1973, damals Bundesstädtebauminister, und er folgert: „Die Überwindung der Krise setzt einen Wechsel der Entscheidungskriterien, der Maß-
stäbe voraus: Die Lebensqualität muß an die Stelle des rein materiellen Lebensstandards tre-
ten.“25
Friedrich Engels wies vor etwa hundert Jahren (1872) in seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage“ nach, daß die Wohnungsnot „ein notwendiges Erzeugnis der bürgerlichen Gesellschaftsform ist; daß eine Gesellschaft nicht ohne Wohnungsnot bestehen kann, in der die große arbeitende Masse auf Ar-
beitslohn, also auf die zu ihrer Existenz und Fortpflanzung notwendige Summe von Lebensmitteln, ausschließlich angewiesen ist; … in der Arbeiter massenhaft in den großen Städten zusammenge-
drängt werden, und zwar rascher, als unter den bestehenden Verhältnissen Wohnungen für sie entstehen, in der also für die infamsten Schweineställe sich immer Mieter finden müssen; in der endlich der Hausbesitzer, in seiner Eigenschaft als Kapitalist, nicht nur das Recht, sondern, ver-
möge der Konkurrenz, auch gewissermaßen die Pflicht hat, aus seinem Hauseigentum rücksichts-
los die höchsten Mietpreise herauszuschlagen. In einer solchen Gesellschaft ist die Wohnungs-
not kein Zufall, sie ist eine notwendige Institution, sie kann mitsamt ihren Rückwirkungen auf die Gesundheit usw. nur beseitigt werden, wenn die ganze Gesellschaftsordnung, der sie entspringt, von Grund aus umgewälzt wird.“26
In Vogels klassenneutraler „Ökonomie“, mit der er die gängige „Sachzwang“-Ideologie ergänzt, hindern wachsender „Konsum“ (der Massen?) und „Ertrag“ (Profit?), in einen Topf geworfen, die Bewohnbarkeit der Städte. Die Krise der Stadt im Kapitalismus wird so – als Konflikt zwischen dem Streben nach höherem „Lebensstandard“ und nach mehr „Lebensqualität“ in die individuelle Seele jedes einzelnen, ob Kapitalist oder Arbeiter, verlegt – zu einem moralischen Problem. Der Bourgeoisie-Sozialist Vogel darf sich heute die Krise der Stadt sowenig „aus den Verhältnissen erklären“ als seinerzeit der Bourgeoisie-Sozialist Sax, gegen den Engels polemisierte, die Woh-
nungsnot. „Es bleibt ihm also kein anderes Mittel übrig, als sich mit moralischen Phrasen der Schlechtigkeit der Menschen zu erklären, sozusagen aus der Erbsünde.“27 Hinter diesen Phrasen aber lauert der Appell an die arbeitende Bevölkerung, den Gürtel enger zu schnallen, um die Lasten der systemstabilisierenden „Reformen“ leichter tragen zu können.
Werner Marschall
Anmerkungen:
1 Süddeutsche Zeitung vom 7.11.73 (Beilage)
2 Daten und Zitate nach SZ vom 7.11.73 (Beilage), 15.11.73, 19.12.73 (Beilage)
3 Daten und Zitate nach SZ vom 15.1.74, 16.1.74, 17.1.14, 19.1.74, 19.2.74, 23.3.74
4 Daten und Zitate nach SZ vom 3.10.74, 4.10.74, 5.10.24, 8.10.24, 12.10.24
5 Daten und Zitate nach SZ vom 2.6.73, 19.7.73, 3.8.73, 21.9.73, 7.3.74, 1.4.74, 27.4.74 (Beilage)
6 SZ vom 23.3.74
7 SZ vom 1.6.74, 19.6.74, Münchner Stadtanzeiqer vom 25.6.74
8 Landeshauptstadt München, Referat für Stadtforschunq und Stadtentwicklung: Stadtentwicklungsplan ‘74, München, März 1974
9 Münchner Stadtanzeiger, 27.9.74
10 SZ 13.9.74
11 Siehe Michael Ratz, Bodenpolitik in der BRD, Kritik und demokratische Alternativen, Hefte zu politischen Gegenwartsfragen Nr. 9, Pahl-Rugenstein-Verlag, Köln 1973
12 Bilanzanalyse der BMW, von Studenten der Hochschulgruppe der DKP, München 1971
13 Karl Marx, Das Kapital, Dritter Band, in MEW Band 25, Berlin 1964, S. 781 f.
14 Piero della Seta, An den Quellen der Wohnungskrise, in: Problerne des Friedens und des Sozialismus, Prag, Heft 4/1974, S. 535
15 Ebenda
16 Karl Marx, a.a.O., S. 782
17 Piero della Seta, a.a.O., S. 534
18 Siehe Michael Ratz, a.a.O., S. 19
19 SZ vom 23.3.73 und 15.5.73
20 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbaugesetzes, Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/2496
21 UZ vom 1.10.74
22 Siehe: Grundsätze zu einer sozialen und demokratischen Mieten- und Wohnungspolitik und Vorschlag für einen Gesetzentwurf zur Neuordnung des Bodenrechts, herausgegeben vom Parteivorstand der DKP, sowie: Grundsätze einer sozialen und demokratischen Sanierung der Städte und Gemeinden im Interesse der arbeitenden Bevölkerung, Entwurf, herausgegeben und zur Diskussion gestellt vom Präsidium der DKP, August 1974
23 Münchner Stadtanzeiger vom 30.8.74
24 SZ vom 5.10.74 und 17.10.74
25 Dr. Hans-Jochen Vogel, Städtebau und Gesellschaftspolitik, 10 These zur Stadtentwicklung, in: Münchner Stadtanzeiger vom 9.11.73
26 Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, in MEW Band 18, Berlin 1964, S. 236
27 Ebenda
tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 99 vom Januar/Februar 1975, 4 ff.