Materialien 1982

Münchener Appell „Gegen Sozialabbau – für Vollbeschäftigung“

Die Bundesrepublik befindet sich im 7. Jahr einer Massenarbeitslosigkeit mit durchschnittlich mehr als einer Million offiziell registrierten Erwerbslosen. Zu Beginn des Jahres 1982 ist diese Zahl bereits auf zwei Millionen angewachsen. Hinzu kommt die sogenannte stille Reserve von knapp einer Million Arbeitssuchenden, die nicht beim Arbeitsamt registriert sind.

Eine Folge dieser Entwicklung ist die physische und materielle Verarmung vieler Betroffener, vor allem derjenigen, die bereits über einen längeren Zeitraum ohne Arbeit sind. Besonders die an-
wachsende Zahl jugendlicher Arbeitsloser macht deutlich, daß unsere kapitalistische Gesellschafts-
ordnung immer weniger in der Lage ist, der nachwachsenden Generation eine sinnvolle Lebens-
perspektive zu eröffnen.

Aber auch ältere Arbeitnehmer sind von der Arbeitslosigkeit besonders betroffen, weil für sie der auf höchstmögliche Ausnutzung der Arbeitskraft ausgerichtete Produktionsprozeß langfristig zu erheblichen Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens und zu einer verringerten Einsetzbarkeit im Arbeitsprozeß führt.

Der überproportional hohe Frauenanteil droht überdies die Bemühungen um Gleichberechtigung nachhaltig zu untergraben.

Die etablierten Parteien geraten mehr und mehr in Legitimationsschwierigkeiten und verlieren zunehmend das Vertrauen vor allem der nachwachsenden Generation. Dies gilt insbesondere für die Sozialdemokratie.

In dieser Situation hat die sozialliberale Regierungskoalition Maßnahmen zur Deckung des Haushaltsdefizits, das im wesentlichen auf die anhaltende Arbeitslosigkeit zurückzuführen ist, durchgesetzt. Diese Maßnahmen werden die bedrohliche Beschäftigungskrise jedoch weiter verschärfen. Die „Operation ‘82“ und der damit verbundene Abbau sozialer Leistungen und des Arbeitnehmereinkommens läßt befürchten, daß die Bundesregierung immer stärker auf die Politik ökonomischer Krisenbewältigung einschwenkt, wie sie in Großbritannien und den USA von den dortigen konservativen Regierungen mit den bekannten wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die Arbeitnehmer betrieben wird. Diese „Operation“ ist nichts anderes als eine gezielte Belastung der einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen.

Im Gegensatz zu konservativen Auffassungen liegen die Ursachen der Arbeitslosigkeit nicht in den angeblich zu hohen Lohnkosten (die Lohnquote ist gesunken), sondern in der Tatsache, dass es – nicht zuletzt auch als Folge der Hochzinspolitik – für die Unternehmer profitabler ist, ihr Kapital auf dem Geldmarkt anzulegen anstatt produktive arbeitsplatzschaffende Investitionen zu tätigen. Im Vergleich zu ihren Gewinnen, die in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen sind, investie-
ren die deutschen Unternehmer nicht nur zu wenig, sondern auch mit der falschen Zielsetzung – nämlich mit der Absicht, durch Rationalisierung weitere Arbeitsplätze abzubauen.

Durch die Streichung von Sozialleistungen und die damit verbundene Steuerentlastung der pri-
vaten Unternehmer wird diese Entwicklung nicht aufgehalten, sondern weiter verstärkt.

Das von der Bundesregierung vorgelegte „Beschäftigungsprogramm“ ist sowohl vom finanziellen Umfang als auch von der grundsätzlichen Ausrichtung her nicht in der Lage, die Arbeitslosigkeit abzubauen; von einer Wiederherstellung der Vollbeschäftigung ganz zu schweigen.

Zum einen ist die zeitlich begrenzte Investitionszulage von 10 Prozent eine reine Subvention von Rationalisierungsinvestitionen, weil sie nicht an die Auflage geknüpft ist, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Zum anderen bedeutet die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 13 auf 14 Prozent so-
wohl eine zusätzliche Belastung der Arbeitnehmer als auch eine weitere Schwächung der Inlands-
nachfrage.

Der Krise der öffentlichen Haushalte kann nur durch die wirksame Bekämpfung der Arbeitslosig-
keit entgegengewirkt werden. Um die weitere materielle Verarmung von immer größer werdenden Bevölkerungsgruppen zu verhindern, müssen die Sozialleistungen nicht nur erhalten, sondern weiter ausgebaut werden; die bisherige Sozialpolitik, deren Charakter darin besteht, bereits einge-
tretene Schäden im nachhinein zu lindern, ist durch eine vorbeugende Sozialpolitik zu ersetzen, die an den Ursachen sozialer Schädigungen ansetzt. Das heißt, der wirksamste Schutz gegen die unso-
zialen Folgen der Arbeitslosigkeit besteht in einer Wirtschaftspolitik, die in der Lage ist, Vollbe-
schäftigung und humane Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Eine Politik, die auf die Selbstregulierung der freien Kräfte des Marktes vertraut, vermag dies nicht zu leisten, im Gegenteil: eine solche Politik befördert Arbeitslosigkeit und führt damit letztlich zur sozialen Demontage.

Wir fordern daher:

1. ein Beschäftigungs- und Investitionsprogramm in Höhe von mindestens 50 Milliarden DM für fünf Jahre und die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den Bereichen Energieversorgung (insbe-
sondere durch die Erweiterung der Nutzungsmöglichkeiten der Fernwärme), Wohnungs- und Städtebau und durch den Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs.

2. Die Finanzierung dieses Beschäftigungs- und Investitionsprogramms durch
- die Erhebung einer Ergänzungsabgabe zur Einkommens- und Körperschaftssteuer ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 60.000/120.000 DM (Alleinstehende/Verheiratete) ent-
sprechend den Forderungen des DGB,
- die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe für Abgeordnete, Beamte, Selbständige und Freibe-
rufler,
- die entscheidende Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und die Ausweitung des Betriebs-
prüfungssystems,
- die Überprüfung sämtlicher Subventionen im Hinblick auf die Beschäftigungswirkung und Mitnehmereffekte,
- die Einführung einer Höchstgrenze für die Berechtigung der Inanspruchnahme des Ehegatten-
splittings im Steuerrecht,
- die Kürzung des Verteidigungshaushalts unter Berücksichtigung der hieraus sich ergebenden Beschäftigungswirkungen.

3. Den Übergang zu einer vorbeugenden Sozialpolitik durch die Sicherung eines maßgeblichen Einflusses der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften auf die Gestaltung des Arbeitsprozesses. Hierdurch können soziale und gesundheitliche Schädigungen am Ort ihres Entstehens verhindert werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden einzubringen.

4. Investitionssteuernde Maßnahmen zur Sicherung eines hohen Beschäftigungsstandes, der an den Bedürfnissen der Arbeitnehmer orientiert ist. Dies bedeutet: weitgehende Eingriffe in die alleinige Verfügung der privaten Unternehmen über die Investitionen, einerseits durch eine Er-
weiterung der betrieblichen Mitbestimmung wie auch durch Formen überbetrieblicher Mitbestim-
mung in Wirtschafts- und Sozialräten.

Diese Maßnahmen sollen erste Schritte sein in Richtung auf eine Wirtschaftsordnung, die nicht am Profitprinzip orientiert ist, sondern in der die Bedürfnisse der Arbeitnehmer in einem demokrati-
schen Prozeß artikuliert und bereits vor der Produktion berücksichtigt werden.

Erstunterzeichner: Leonhard Mahlein, Vorsitzender der IG Druck und Papier – Dr. Jürgen Bödd-
rich, Vorsitzender des SPD-Bezirks Südbayern – Fritz Schösser – Willi Piecyk, Juso-Bundesvor-
sitzender – Manfred Jena, Personalratsvorsitzender und Landtagskandidat der SPD – Bernhard Groth, stellv. Juso-Bundesvorsitzender – Michael Wendl, Gewerkschaftssekretär – Clemens Pin-
gel, Vorsitzender des Juso-Bezirks Südbayern – Max Weber, Gewerkschaftssekretär, Landtags-
kandidat der SPD – Rudolf Hartung, Juso-Bundessekretär – Jürgen Feuchtmann, Gewerkschafts-
sekretär – Helmut Hindinger, Mitglied des Juso-Bundesausschusses – Martin Hoffmann, Gewerk-
schaftssekretär – Günter Kreis, Mitglied des Juso-Bundesausschusses – Dr. Gerd Elvers, Vorsit-
zender des AfA-Bezirks Südbayern – Werner Neumann, Vorsitzender des Juso-Bezirks Franken – Klaus Dittrich, Gewerkschaftssekretär – Wolfgang Veiglhuber, Vorsitzender der Münchner Jusos.


Blätter für deutsche und internationale Politik 6/1982, Köln, 764 ff.