Materialien 1989
Gesinnungsurteil gegen Ingrid Strobl
»Ich habe im Gefängnis sehr anschaulich erfahren, was die Begriffe schuldig und unschuldig bedeuten. Sie sagen kaum etwas aus über das, was ein Mensch wirklich getan hat. Sie sagen aber sehr viel aus über die Gesellschaft und ihre Justiz. Unschuldig sind in dieser Gesellschaft und vor ihrer Justiz die Konzernherrn und -manager, die heute den Hungertod von ungezählten Men-schen in der sogenannten Dritten Welt ganz selbstverständlich einkalkulieren zum Wohle und zum Segen ihres Profits.
Unschuldig sind die Produzenten von Giftgas und anderen chemischen Giften, die den Tod von Hunderttausenden auf dem Gewissen haben, zum Wohle und Segen des deutschen Exports. Un-
schuldig sind die Rassenideologen, die mit ihren Anti-Ausländer-Kampagnen türkische Eltern so weit bringen, daß sie es nicht mehr wagen, an Führers Geburtstag ihre Kinder zur Schule zu schicken.
Angesichts dieses gesellschaftlichen und rechtlichen Umgangs mit den Begriffen schuldig und unschuldig kann ich mich hier nicht verteidigen, indem ich sage, ich bin unschuldig. Ich bekenne mich daher schuldig. Ich bekenne mich schuldig, eine radikale linke und feministische Gesinnung zu haben und diese nicht ablegen zu können und zu wollen.«
Auszüge aus dem Schlußwort der Angeklagten Ingrid Strobl. Am 9. Juni wurde die 37jährige Jour-
nalistin von der Staatsschutzkammer des Düsseldorfer Oberlandesgerichtes wegen der Unterstüt-
zung einer terroristischen Vereinigung und der Beihilfe zu einem Sprengstoffanschlag zu fünf Jah-
ren Haft verurteilt. Die aus Österreich stammende frühere »Emma«-Redakteurin habe »vorsätz-
lich Hilfe« bei dem Anschlag der Revolutionären Zellen auf die Lufthansa-Hauptverwaltung im Oktober 1986 geleistet, so der Vorsitzende Richter Klaus Arend. Er hält es für erwiesen, daß Ingrid Strobl bei einem Uhrenfachgeschäft in Köln genau jenen Wecker der Marke »emes sonochron« gekauft habe, der bei dem Anschlag als Zeitzündverzögerer benutzt worden war. Ingrid Strobl hat den Kauf eines Weckers dieser Marke für einen Bekannten nie bestritten, bestritten hat sie jedoch, diesen Wecker gezielt für einen Anschlag erworben zu haben.
Grundlage für die Verhaftung und die jetzige Verurteilung Ingrid Strobls ist das sogenannte »Wek-
kerprogramm« des Bundeskriminalamtes. Ausgehend von der Tatsache, daß bei zahlreichen An-
schlägen der Revolutionären Zellen die mechanischen »Emes-Sonochron« Wecker zur Zeltzün-
dung benutzt worden waren, verfiel das BKA 1983 auf die Idee diese Wecker zu markieren. Bis An-
fang 1986 hatte das BKA in rund 6.600 zuvor aufgekaufte »Emes Sonochron« eigenhändig num-
merierte Zifferblätter eingebaut und in ausgewählten Uhrengeschäften im gesamten Bundesgebiet verteilt. Doch zunächst, so gab ein Mitarbeiter des BKA vor Gericht zu, war das Weckerprogramm »ein Reinfall«. Die Gründe liegen auf der Hand. Der Emes-Reisewecker war über viele Jahre ein Renner der Schwarzwälder Uhrenfabrik – und wurde hunderttausendfach verkauft. Zudem, so die Aussage zweier BKA-Beamter, habe es zahlreiche Fehlerquellen bei der Kontrolle gegeben.
So entschied man Anfang 1986, daß die Firmennummerierung bis zum Verkauf am Wecker blei-
ben, dann erst abgelöst und dem BKA zur Kontrolle übergeben werden solle. Doch das Kölner Uhrenfachgeschäft, bei dem Ingrid Strobl im September 1986 ihren »Emes Sonochron« kaufte, hatte die Nummerierung mitsamt der Verpackung weggeschmissen und die Nummer auf ein eigenes Etikett übertragen. Das wiederum ist jedoch verschwunden. Statt dessen, so Mitarbeiter des Geschäftes, die erst zwei Jahre nach dem Einkauf Ingrid Strobls zum ersten Mal vernommen wurden, habe man die Firmennummer mitsamt einiger Angaben zur Käuferin auf einem Zettel vermerkt. So mußte die entscheidende Verkäuferin vor Gericht auch zugeben, daß sie zunächst eine ganz andere Frau als Kundin identifiziert hatte – eine Panne, die das Bundeskriminalamt später durch eine gezielte Gegenüberstellung mit Ingrid Strobl auszubügeln suchte.
Bis zum Schluß der Verhandlung konnte das Bundeskriminalamt nicht zweifelsfrei nachweisen, daß der von Ingrid Strobl gekaufte Wecker mit dem bei dem Lufthansa-Anschlag benutzten identisch ist. Und selbst wenn es so wäre – trotz monatelanger Telefonüberwachung und Ob-
servation, die, alles deutet darauf hin, schon vor ihrer Identifizierung als Weckerkäuferin ein-
gesetzt hatte, fand das BKA keinerlei Indizien für einen Kontakt Ingrid Strobls zu den Revolu-
tionären Zellen. Und damit auch nicht für die Urteilsbegründung, Ingrid Strobl habe den Wecker vorsätzlich für einen Anschlag gekauft. Doch weder Bundesanwaltschaft noch Gericht ließen sich von den dürftigen Indizien irritieren. Statt dessen verlegte man sich auf Interpretationen. Eine radikale Feministin, so die Bundesanwaltschaft, würde mit einer modisch gekleideten Uhren-
verkäuferin normalerweise nicht so freundlich reden, es sei denn, sie würde sich – mit gutem Grund – verstellen wollen.
Gegen Ingrid Strobl ausgelegt wurde zudem, daß sie sich bis zum Schluß weigerte, den Namen desjenigen zu nennen, für den sie den Wecker gekauft hat. Ihre Argumente: Ihr selbst würde es nicht helfen, und zusätzlich wären der Weckerempfänger und seine Bekannten den Zugriffen des BKA ausgesetzt. Ingrid Strobl in ihrem Schlußwort:
»Ich führe täglich den Kampf um meine Menschenwürde, unter Bedingungen, die jede Menschen-
würde negieren. Und nun soll ich mich ausgerechnet unter diesen Bedingungen selbst erniedri-
gen, indem ich versuche, meine Freiheit auf Kosten eines anderen Menschen zu erfeilschen? Wer kann das von mir verlangen wollen? Wer kann mir das überhaupt zutrauen?«
Doch das Gericht vermochte mit dieser Art der politischen Moral nichts anzufangen, bezeichnete sie gar als »Ganovenehre«.
Bis zum Schluß des Prozesses blieb der Eindruck, daß es den Ermittlungsbehörden vor allen Din-
gen um ein verzweifeltes Festhalten an einer der wenigen in den letzten Jahren erreichten An-
klagen auf der Grundlage des Paragraphen 129a ging. Die Hamburger Setzerin Ulla Penselin, die im Rahmen derselben Großrazzia wie Ingrid Strobl im Dezember 1987 verhaftet worden war, mußte nach acht Monaten Untersuchungshaft wieder freigelassen werden. Und bei allen anderen Ermittlungsverfahren in diesem Zusammenhang hat die Bundesanwaltschaft bisher ebenfalls nur den Kontakt mit angeblich verdächtigen Personen oder die Beschäftigung mit sogenannten an-
schlagsrelevanten Themen zu bieten. So wurde Ingrid Strobl als Beweis ihre Beschäftigung mit anschlagsrelevanten Themen vorgeworfen. Anschlagsrelevante Themen sind solche Themen, mit denen die Revolutionären Zellen ihre Anschläge begründet haben – Flüchtlings- und Ausländer-politik, Sextourismus, Frauenhandel. Und daß sich auch Ingrid Strobl in ihren journalistischen Arbeiten mit eben jenen Problemen auseinandersetzte, wollte die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer für die Urteilsfindung berücksichtigt wissen. Zahlreiche alte Artikel Ingrid Strobls wur-den als sogenannte Beweismittel vorgelegt. Und das obwohl die Gesinnung Ingrid Strobls – so die Selbstdarstellung der Bundesanwaltschaft – keine Rolle spiele. SPD und Grüne haben das Urteil inzwischen scharf kritisiert. Sie warfen den Richtern Voreingenommenheit gegenüber der Ange-klagten vor und bezeichneten den Richterspruch als Gesinnungsurteil.
»Ich bekenne mich schuldig«, so Ingrid Strobl in ihrem Schlußwort, »ich bekenne mich schuldig, die Entmündigung und Entwürdigung von Menschen durch Heime, Psychiatrien und Gefäng-
nisse nicht hinnehmen zu können. Ich bekenne mich schuldig, weder den latenten noch den akuten Rassismus in dieser Gesellschaft hinnehmen zu können. Ich bekenne mich schuldig, Feministin, Internationalistin und Antifaschistin zu sein in einer Gesellschaft, die NS-Verbrecher, Sklavin-
nenhändler und Ausländer-Raus-Politiker von jeder Schuld freispricht.«
Gabi Gillen
Blätter für deutsche und internationale Politik 7/1989, Köln, 781 ff.