Materialien 1988
Das Land der Sieger
… Glasnost, denke ich, ist eine gute Wegbezeichnung bei dem Versuch, in unserem Land endlich die Jakobiner und Achtundvierziger, die Ahnen der Friedensbewegung, Georg Friedrich Nicolai (wer, Hand aufs Herz, kennt ihn?), Hellmut von Gerlach oder Harry Graf Keßler, die Radikaldemo-
kraten und Sozialisten, von Forster bis Landauer, Rehmann bis Paul Levi, die jüdischen Kulturträ-
ger, von Moses Mendelssohn bis Arnold Zweig, und die Parlamentarier von Gabriel Rießer über Eugen Richter bis hin zu Carlo Schmid, dem praeceptor Germaniae, entschiedener und couragier-
ter als bisher ins Blickfeld zu rücken – mit Hilfe des listigen, Voreingenommenheiten aufbrechen-
den Zitierens zum Beispiel.
„Wenn ich an einem lauen Frühlingstag … auf den Straßen schlendre … beide Hände in den Ta-
schen des Jäckchens, ohne Ziel, nur um das Leben einzusaugen – aus den Häusern tönt österliches Matratzenklopfen, eine Henne gackert irgendwo laut, Schulbuben balgen sich auf dem Nachhause-
weg mit hellem Geschrei, ein vorbeikeuchender Stadtbahnzug sendet einen kurzen grüßenden Pfiff in die Luft, ein schwerer Bierwagen rattert die Straße hinunter, irgendwo schilpen lärmend Spat-
zen … gibt es ein höheres Glück als solch zielloses Herumstehen auf der Straße in der Frühlings-
sonne, die Hände in den Taschen und ein Sträußchen für 10 Pfg. im Knopfloch?“ Die Linken, die diesen Text für bürgerlich-sentimental halten mögen, privatistisch eher als sozial verbindlich – ein bißchen romantisch, ein bißchen von Eskapismus und dem kleinen Glück bestimmt, und die Rech-
ten, die das Idyllische der Passage, den Glanz der heilen Welt und die Poesie hervorheben könnten, die auch im Kleinsten und Unscheinbarsten Gottes gute Schöpfung hindurchscheinen lasse: Linke und Rechte sollten sich nicht beirren lassen, wenn sie erfahren, daß der zitierte Text von – Rosa Luxemburg geschrieben worden ist, sondern vielmehr realisieren, wie widersprüchlich, unbere-
chenbar, ja paradox die Kultur unseres Volkes ist. Und deshalb erscheint es mir unverzichtbar, Vorurteile in einem imaginären Berufungsverfahren zu revidieren, das die beiden deutschen Staa-
ten, beim Wetteifern um eine vernünftige Deutung des nationalen Erbes und um die konsequente Realisierung uneingelöster Verheißungen eines Menschenalters der Humanität, darüber belehrte, daß es absurd sei, gemeinsam die Erbschaft eines Reichs zu übernehmen, das der Welt und sich selbst nur Unheil brachte, Elend, Folter und Tod.
Erstrebenswert hingegen könnte es sein, dies lehrt das Berufungsverfahren, sich in getrennten, aber einander nachbarlich verbundenen Räumen, in „Frankfurt“ hier und in „Weimar“ dort ein-
zurichten, um sich so, in einer concordia discors, zu respektieren und darüber nachzudenken, daß das gemeinsame Haus vom Einzug der Weimaraner und Frankfurter gewiß mehr profitierte als vom Aufmarsch der einen Nation und dem Gleichschritt der wiedervereinigten Nachbarn jenes „Deutschland in den Grenzen von 1937“, das zuerst ein norddeutsch-militanter, bajuwarische oder schwäbische Liberalität verhöhnender Obrigkeitsstaat gewesen ist.
Unter diesen Aspekten sollten wir – dies ist das Fazit meiner Überlegungen, die vom Gestern aus das Heute zu interpretieren versuchten – uns von Deutschland verabschieden, in West und in Ost, aber Europa zu verwirklichen helfen – ein Europa, in dem die Menschenrechts-Programme der Französischen Revolution so gut wie die Utopie des Lessingschen „Nathan“ und Rosa Luxemburgs soziale Visionen Eingang finden in alltägliche Praxis. Ein Europa, in dem kein Muselman, Christ oder Jud durch die immer kleiner werdenden Fenster in eine Welt hinausblicken muß, die ihn aus-
schließt. Ein Europa, das jeden Bürger mit den Worten des Berliner Juden Nußbaum sagen läßt: „Ich glaube an das Leben und an den Brief der Freiheit, den es uns schenken wird.“
Walter Jens
Blätter für deutsche und internationale Politik 2/1989, Köln, 169 f.