Flusslandschaft 1989
Religion
„Allein die Fragestellung! – Anlässlich der Präsentation eines Buches, das die Erlebnisse einer Ordensschwester bei der Betreuung der Häftlinge im ehemaligen Konzentrationslager Dachau beschreibt, erklärte Kardinal Friedrich Wetter, dass man zwar ausführlich über die ‚Scheußlich-
keiten und Grausamkeiten’ im KZ Dachau informiert sei, man aber wenig darüber wisse, wie viel ‚Heldentaten und Christenliebe’ an diesem Ort geschehen sei. In der heutigen Zeit, so Wetter weiter, würde das Böse marktschreierisch verkauft, während das Gute allzuoft im Verborgenen wirke. Wetter meinte, es sei nicht geklärt, ob im KZ Dachau ‚mehr Böses oder mehr Gutes’ passiert sei. ‚Dies weiß man erst am Ende der Geschichte.’ Der Kardinal betonte, er sage dies, obwohl ihm klar sei, dass allein die Fragestellung für viele bereits eine Provokation darstelle.“1
„Während die Eingeborenen ihrem zwar malerischen, aber weitgehend unvernünftigen Treiben nachgehen und – töricht wie sie sind – auch vor Naturzerstörung nicht zurückschrecken, treiben die Insassen der Hochkultur ernste Dinge, die auch das Bayerische Fernsehen in würdiger, ge-
schmackvoller Art präsentiert. Fronleichnam sei ‘das Hochfest des Leibes und Blutes Christi’. 10.000 Demonstranten unter Führung des Bayerischen Ministerpräsidenten Streibl und anderer Größen, die wissen, was sie wollen, zeigten ihre Verehrung für den Leib Christi, der in einer Monstranz mitgeführt wurde, in einem kilometerlangen Zug durch die Münchner Ludwigstraße. Kardinal Wetter sprach von Geheimnissen.“2
„Der bayerische Ministerpräsident Max Streibl wurde am 8. Mai zum Ehrenmitglied der Mariani-
schen Männerkongregation am Bürgersaal zu München ernannt. Das ist eine Vereinigung oder Gebetsgemeinschaft, die durch die Seligsprechung von Pater Rupert Mayer, der von 1921 bis 1945 ihr Präses war, eine gewisse Bekanntheit erlangt hat. Weitere Ehrenmitglieder sind u.a. Kardinal Ratzinger und Prinz Franz von Bayern. Hauptvorschrift ist ‚eine tiefe Marienfrömmigkeit’. Ohne-
hin ist das Land Bayern seit 1638 dank Kurfürst Maximilian ‚der Gottesmutter geweiht’.“3
„3. Juni: Am heutigen verkaufsoffenen Samstag finden in der Innenstadt drei große Veranstaltun-
gen statt: Das Benno-Fest, bei dem verschiedene katholische Organisationen in der Fußgängerzone Informationsstände aufgestellt haben, eine Wahlversammlung der rechtsradikalen Deutschen Volksunion und schließlich eine zentrale Großdemonstration der Atom-Gegner, bei der Demon-
strationszüge aus verschiedenen Richtungen sich schließlich auf dem Odeonsplatz vereinigen. – Mitteilung des Chronisten s. ausführlicher Bericht im Anhang, 1, 19“4
Antiklerikale Stimmen scheuen vor Provokationen nicht zurück. Auch bei Tabubrüchen gibt es unterschiedliche Niveaus. Ein Tabubruch geringerer Intensität provoziert Proteste, geht er of-
fenbar über das Maß des Erträglichen hinaus, löst er keine Reaktionen aus.6
„Das Mahnläuten am 28. Dezember, mit dem die katholischen Bischöfe den Herodes’schen Kin-
dermord mit dem Schwangerschaftsabbruch auf eine Stufe stellten, hat inner- und außerhalb der katholischen Kirche starke Kritik hervorgerufen. Wie viele Pfarrer das Bimmeln verweigerten, ist nicht bekannt. In München rief die Initiative ‚Kirche von unten’ zu einem Schweigekreis auf und wies darauf hin, dass die Bischöfe sich in den 50er Jahren weigerten, dieses Datum als Bußtag für die Mitschuld am Judenmord der Faschisten zu begehen …“7
Siehe auch „Bürgerrechte“.
1 Münchner Freisinn. Kostenlose Monatszeitung für Politik und Kultur 4 vom April 1989, 3.
2 Heinz Jacobi, Tod und Teufel. Polemiken. Der Bote Nr. 12. Die politisch-literarische Zeitschrift. Nachrichten aus dem Klassenstaat, München 1991, 354.
3 Deutsche Tagespost vom 13. Mai 1989.
4 Stadtchronik, Stadtarchiv München.
5 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
6 Siehe „Tödlicher Sermon“.
7 Münchner Lokalberichte 1 vom 10. Januar 1990, 7.