Flusslandschaft 1989
Militanz
Seit Juni 1979 ist Rolf Heißler1 inhaftiert. Seit Mai 1987 wird er von den anderen Gefangenen in der JVA Straubing isoliert gehalten und, da er „seine negative Grundeinstellung gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat, insbesondere gegenüber dem Strafvollzug nicht geändert hat“, immer wieder schikaniert, bekommt Hofgangssperren und wird in den Isolationtrakt verlegt. Jetzt tritt Heißler, der die Zusammenlegung mit den anderen Gefangenen fordert, in den Hungerstreik. Aber nicht nur Heißler geht es so, andere politische Gefangenen befinden sich auch im Hungerstreik. — „Grussadresse. Wir, ca. 250 Besucherinnen und Besucher der Lesung von Christian Geißler aus seinem Buch Kamalatta in München sind mit den Forderungen der hungerstreikenden Gefangenen nach Zusammenlegung in ein oder zwei große Gruppen und nach Freilassung von haftunfähigen Gefangenen solidarisch. In der Forderung nach freier Kommunikation und Information finden wir uns mit unseren Erfahrungen und Kämpfen für ein selbstbestimmtes Leben gerade hier wieder. Die Gefangenen sind ein Teil von uns. Es ist an der Zeit, dass wir der staatlichen Repression und Kriminalisierung unseren Kampf und unsere Forderungen entgegen stellen. Die Zusammenlegung jetzt mit den Gefangenen zusammen erkämpfen ist ein Ziel, das uns alle weiterbringt. Wir fordern die sofortige Erfüllung aller Forderungen der Gefangenen! München, 8. März 1989“2
Am 22. März richtet die Stadtratsfraktion der GRÜNEN/ALM in ihren Räumen im Rathaus ein Info-Büro zum Hungerstreik der politischen Gefangenen in der BRD ein.
Am 6. Mai demonstrieren etwa 300 Menschen am Stachusbrunnen unter dem Motto „Jetzt lassen wir nicht mehr los: Zusammenlegung sofort!“ Unter anderen redet auch Monika Berberich, selbst ehemalige Gefangene. „Sie berichtete u.a. über einen Besuch bei Gabi Rollnick in Westberlin. Als sie das staatliche Vorgehen gegen die Hungernden anprangerte und sich mit dem Hungerstreik solidarisierte, versuchte ein Polizeikommando – angeblich wegen des Straftatbestandes § 129a – sie am weiterreden zu hindern. Durch die Geschlossenheit der TeilnehmerInnen und die Öffent-
lichkeit konnte sie diese trotzdem zu Ende halten. – Bei der Aufstellung zur Demonstration ver-
suchte die Polizei einen weiteren Angriff, diesmal auf ein mitgeführtes Transparent. Die Worte ‚Kämpfen’ und ‚Widerstand’ fielen unter den § 129a. Auch dieser Angriff konnte durch die Einmü-
tigkeit der TeilnehmerInnen abgewehrt werden. Das Transparent wurde an dem Zipfel ‚Kämpfen’ und ‚Widerstand’ umgeschlagen und weitergetragen. Die Polizei, die die Demonstration mit einer wandelnden Einkesselung begleitete, versuchte auch weiterhin die Demonstration durch Provoka-
tionen zu behindern. – Geschlossen erreichte man trotz alledem den Weißenburger Platz in Haid-
hausen, auf dem die Abschlusskundgebung stattfand. Dort gab es weitere Beiträge, die sich mit dem Kampf drinnen und draußen beschäftigten, insbesondere mit der Spaltungsfunktion des § 129a, mit dem die Solidarität mit dem Hungerstreik kriminalisiert werden soll. Von den Angehöri-
gen sprach die Schwester von Christian Klar, die auf eindrucksvolle Weise die Leute aufrief, den Hungerstreik zu unterstützen, wenn nicht um der Politik willen, dann wegen einer konsequenten Menschlichkeit. Der Beitrag aus dem Hungerstreik-Plenum beschäftigte sich hauptsächlich mit der Lage in München. Die Frauen und Lesben berichteten über die schamlose und erniedrigende Be-
handlung der Frauen in den Gefängnissen. Der AK Kurdistan rief zu Solidarität mit den kurdischen 129a-Gefangenen in den Knästen der BRD auf. – Es war die erste Demonstration zum Hunger-
streik in München, die aufgrund eines breiten Bündnisses und der Entschlossenheit der Teil-
nehmerinnen durchgesetzt werden konnte.“3
Im „Sicherheitsreport“ des Münchner Polizeipräsidiums heißt es dazu: „Im vergangenen Jahr wurden keine terroristischen Gewalttaten im Bereich des pp München verübt. Anlässlich des 10. kollektiven Hungerstreiks der RAF-Häftlinge vom 01.02. bis 12.05.89 kam es zu einer Serie von Sachbeschädigungen durch ‚Hungerstreik-Parolen’ an Hauswänden. ‚Höhepunkt’ der Hunger-
streikaktion in München war die ‚Solidaritätsdemonstration’ am 06.05. mit ca. 200 RAF-
Sympathisanten.“5
„1. Dezember: Die Ermordung des Chefs der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, der einem An-
schlag der RAF zum Opfer fiel, nehmen rund 600 Bankangestellte zum Anlass einer Spontande-
monstration. Sie veranstalten von der Zentrale der Deutschen Bank am Promenadeplatz einen Schweigemarsch durch die Pacellistraße über den Maximiliansplatz zum Odeonsplatz.“6
(zuletzt geändert am 29.11.2020)
1 Rolf Gerhard Heißler, geb. am 3. Juni 1948 in Bayreuth; ab 1958 Gymnasium in Hildesheim, Abschluss mit Abitur; Freiwillige Verpflichtung zu zweijährigem Wehrdienst April 1967, Ausscheiden aus der Bundeswehr wegen gesundheitlicher Probleme; Studium an der philosophischen Fakultät der Uni München; 1968 – 1970 Beziehung mit Brigitte Mohnhaupt, Mitglied der Tupamaros München; 13. April 1971 Teilnahme an einem Banküberfall, 1972 Verurteilung zu einer sechs-
jährigen Freiheitsstrafe; Freilassung aufgrund der Lorenz-Entführung und Flug nach Aden im Jemen am 2. März 1975; Oktober 1976 heimliche Rückkehr in die BRD; am 9. Juni 1979 erneut verhaftet und durch Kopfschuss schwer verletzt;
1982 zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er zusammen mit Adelheid Schulz am 1. November 1978 bei einer Passkontrolle auf der Nieuwestraat in Kerkrade zwei niederländische Zollbeamte erschossen und zwei weitere schwer verletzt haben soll; 26. Oktober 2001 Freilassung auf Bewährung. Am 7. September 2007 behauptete der frühere RAF-Angehörige Peter-Jürgen Boock gegenüber Journalisten, dass Heißler zusammen mit Stefan Wisniewski die tödlichen Schüsse auf Arbeit-
geberpräsident Hanns Martin Schleyer am 18. Oktober 1977 abgegeben habe.
2 freiraum 23 vom Sommer 1989, 17.
3 Münchner Lokalberichte 10 vom 8. Mai 1989, 7.
4 Die grüne MAMBA. Monatlicher Rundbrief der Fraktion DIE GRÜNEN/ALM im Rathaus 42 vom Mai/Juni 1989, 12.
5 Sicherheitsreport 1989. Polizeipräsidium München, München 1990, 8.
6 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 277, 1.