Flusslandschaft 1989

StudentInnen

„10. Januar: Mehrere hundert Stundenten stehen an der Arcisstraße zwischen Königsplatz und Gabelsbergerstraße vor der Essenausgabe in der Mensa der Technischen Universität. Zu der Ansammlung kam es nach 2 Vollversammlungen der Fachschaften Elektrotechnik und Mathema-
tik/Physik/Informatik. Dort hatten die Immatrikulierten über die schlechten Studienbedingungen, schlechte Wohnungssituation, zuwenig Hochschulpersonal und überfüllte Hörsäle diskutiert. Mit dem Bilden einer langen Schlange vor der Mensa wollen die Studenten die Öffentlichkeit auf ihre Probleme aufmerksam machen.“1

„12. Januar: Die Vollversammlung der Technischen Universität beschließt für den 17. und
18. Januar einen ‘konstruktiven Streik’. In Arbeitskreisen sollen Lösungen für die Misere der Münchner Studenten, teils gemeinsam mit den Professoren, erarbeitet und in der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Zum Abschluss ist ein Demonstrationszug in die Innenstadt geplant.“2

„12. Januar: Bundesbildungsminister Jürgen Möllemann kommt nach München, um sich hier
über die Probleme der Universität zu informieren. Zunächst wird er bei einem Gespräch mit dem Präsidialkollegium und Mitgliedern des akademischen Senats mit der Notsituation der Münchner Studenten konfrontiert. Eine Wohnung unter 400 bis 500 DM sei in München nur schwer zu bekommen, nur 18 % der Immatrikulierten erhielten ein Stipendium nach dem Bundesausbil-
dungsförderungsgesetz, 50 bis 60 % der Studenten müssten neben dem Studium noch arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Attackiert wird dabei Möllemann von Studentenvertretern wegen seiner Äußerungen, die Oberfüllung der Universitäten u. a. durch eine Verkürzung des Studiums anzugehen. Möllemann meint, es würde ja niemand gezwungen, in München zu studieren, man könne ja auch nach Bielefeld gehen. Aufgrund der teuren Mieten könne man keinen Zuschlag zum BAföG gewähren. An die Hochschulen richtet der Minister die Forderung, das Studium so zu gestalten, dass schneller absolviert werden könne. Im Übrigen sei die soziale Lage der Studenten nicht so schlimm. Immer wenn er sich einer Hochschule nähere, finde er keinen Parkplatz vor. Schließlich meint Möllemann, die Länder müssten mehr für die Hochschulen tun. Anschließend wollte sich Möllemann im Auditorium maximum äußern, dazu kam es jedoch nicht. Möllemann wird mit einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert, Papierkugeln und einer faulen Tomate empfangen, als er sich, umrahmt von Leibwächtern mit dem Universitätspräsidenten zum Pult vorkämpft. Dort sieht er sich lautstarken Protesten und Forderungen der Studentenvertreter gegenüber. Nach einer 1/2 Stunde versucht Möllemann, selbst an das Mikrofon zu gelangen. In einem chaotischen Handgemenge verlässt der Minister darauf fluchtartig den Saal. In einer Erklärung am Abend meint Möllemann, ‘kommunistische Kadergruppen’ hätten ihn auf keinen Fall zu Wort kommen lassen. Im Anschluss an die Veranstaltung bildet sich ein Demonstrationszug mit etwa 5.000 Studenten, die über die Ludwigstraße zur Technischen Universität ziehen. wo für die kommende Woche ein Streik beschlossen wird. Auch an der Universität wird aller Voraussicht nach in den Fachschaften/Vollversammlungen der nächsten Tage ein Streik befürwortet werden.“3

„16. Januar: An der Universität und der Technischen Universität finden mehrere ‘Vollversammlungen’ der studentischen Fachschaften statt. auf denen die Beschwerdepunkte über die Zustände an diesen Hochschulen durch besprochen wurden. An der Technischen Universität wird gleichzeitig eine Boykottwoche mit einem Theaterstück und einer Übernachtungsaktion begonnen. Damit soll auf die Wohnungsnot vieler Studenten hingewiesen werden. Gefordert wird der Bau von viel mehr Wohnheimen, eine Verbesserung der Studienförderung, die auch auf Kinder von Eltern mit mittleren Einkommen ausgedehnt werden müsste. Insgesamt heißt es, es würde viel zu wenig Geld für die Universitäten zu Verfügung gestellt. Die beiden Universitätspräsidenten sowie viele Professoren stellen sich hinter die Forderungen der Studenten. Morgen wollen einige aus Protest ihre Vorlesungen im Freien abhalten. Damit soll die Bevölkerung darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Hörsäle nicht ausreichten.“4

„17. Januar: Studenten der Universität und der Technischen Universität weisen mit verschiedenen Aktionen die Öffentlichkeit auf ihre Probleme hin. Der Streik der Studenten greift auch auf die Fachhochschule München und die Katholische Stiftungsfachhochschule über. Schon in der vergangenen Nacht wiesen Hunderte von Studenten mit einer Übernachtung in Schlafsäcken in der Aula der Technischen Universität auf die Wohnungsnot hin. Unter den Teilnehmern entwickelt sich ein in den vergangenen Jahrzehnten unter Studenten immer mehr verlorengegangenes Gemeinschaftsgefühl. Im Gegensatz zu früheren Jahren geht es den Studenten nicht um politische Anliegen. sondern nur um die Verbesserung ihrer studentischen Situation. Bei einer Vollversammlung des Fachbereiches für Geisteswissenschaften an der Universität wird geklagt, dass Bund und Länder zwar ein 2-Milliarden-Notprogramm für die Universitäten beschlossen hätten, die Geisteswissenschaften aber nichts davon abbekämen, im Gegenteil, dort würde beim akademischen Mittelbau sogar eingespart. Des weiteren wird beklagt. dass das Studentenwerk zwar Geld für neue Wohnheime habe, aber die Stadt München keine Grundstücke zur Verfügung stelle. Der geisteswissenschaftliche Fachbereich beschließt, sich dem Ausstand anzuschließen, in Übungsräumen wird diskutiert, Fachschaftssprecher meinen, im ‘Schneeballsystem’ sollen alle angesteckt werden. Professoren solidarisieren sich mit den studentischen Forderungen. Auf öffentlichen Plätzen halten sie Vorlesungen und weisen damit auf die Raumnot an den Universitäten hin. Wie lange die Aktions- und Streikwelle an den Hochschulen anhält, weiß noch niemand. Mehrere Fachbereiche haben bereits für die ganze Woche Streikbeschlüsse gefasst.“5

Die größte Studierendendemonstration der Münchner Geschichte gegen die Änderungen des Hochschulgesetzes findet am 18. Januar statt: „Höhepunkt studentischer Protestaktionen gegen die derzeitigen Studienbedingungen ist ein Demonstrationszug mit mehr als 30.000 Teilnehmern und eine Kundgebung auf dem Marienplatz.“6

„19. Januar: Zu einer Art Demonstration versammeln sich rund 250 katholische Theologiestudenten der Münchner Universität vor der Michaelskirche. Die jungen Leute heften ihre Forderungen in Anlehnung an Luthers Thesenanschlag an eine nachempfundene Kirchentür. Dort ist u. a. zu lesen ‘Wir fordern eine verständlichere Sprache in der Theologie’, ‘Größeres Mitspracherecht bei Studieninhalten’, ‘Stärkere Gewichtung von Lehre und Vermittlung gegenüber Forschung’.“7

„20. Januar: In nahezu allen Fakultäten der Ludwig-Maximilians-Universität finden ‘Vollversammlungen’ statt, in denen über die Zweckmäßigkeit von weiteren ‘Streiks’ diskutiert wird. Parallel dazu finden auch mehrere Aktionen statt. An der TU hingegen ist es ruhig. Der größte Ärger derzeit an der Ludwig-Maximilians-Universität herrscht über Bundesbildungsminister Jürgen Möllemann. Seine Äußerungen werden allgemein kritisiert.“8

„29. Januar: Mehrere tausend Studenten. Professoren und Schüler demonstrieren in einem Zug über die Ludwigstraße zur Alten Pinakothek gegen die ‘gezielte Aushungerung’ der Geistes- und Sozialwissenschaften an den Universitäten. Die Kundgebung bildet den Abschluss der 2wöchigen Streiks der Geisteswissenschaftler an der Universität. Studenten und Dozenten wenden sich über die materiellen Forderungen hinaus gegen eine grundsätzliche Fehlentwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft, gegen eine ‘marktorientierte Verwaltungsdemokratie’. Die Geisteswissenschaften hätten jahrelang die Misere getreulich verwaltet und seien bis zur Grenze der Wahrnehmungsfähigkeit geschrumpft. Besonders kritisiert wird, dass die Geisteswissenschaftler aus dem geplanten 2-Milliarden-Mark-Notprogramm von Bund und Ländern für die Hochschulen ‘keinen Pfennig sehen’. Betont wird, Geistes- und Sozialwissenschaften gehörten zum Fundament einer jeden Kulturnation. Einer der Professoren kritisiert, dass Politiker in Bayern Milliarden ‘in offenkundig schwachsinnige Projekte’ wie den Rhein-Main-Donau-Kanal, in die ‘ökologisch und ökonomisch hirnrissige Wiederaufbereitungsanlage’ steckten oder ‘Himmelfahrtsprojekte wie den Jäger 90’ unterstützten. Die Bildungspolitik werde derweilen vernachlässigt. Wie bei allen Veranstaltungen im Rahmen der Studentenproteste wird auch diese Aktion mit einem bunten Programm umrahmt. Gemeinsam singen die Hochschüler auf Minister Wild umgemünzte Kirchenlieder und beten zum Abschluss ein ‘Glaubensbekenntnis’ für die ‘Verfasste Studentenschaft’.“9


1 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 8, 1, 4.

2 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 10, 1, 4.

3 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 10, 1, 4, 24, 25.

4 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 13, 1, 4, 25.

5 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 14, 1, 4, 25.

6 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 15, Fotos, Beilagen, 1, 4, 25.

7 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 16, 1, 4, 8.

8 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 17, 4.

9 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 24, 1, 4, 25.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: StudentInnen