Materialien 1984
Arbeitsloser als Streikposten
Ich bin von Beruf Chemigraph. 15 Jahre lang habe ich in diesem Beruf in einem Münchner Zei-
tungsverlag gearbeitet, bis ich 1982 im September arbeitslos wurde. Mit einer kurzen Unter-
brechung bin ich seitdem arbeitslos und Arbeitslosenhilfeempfänger. Ich bekomme mit rund 1.000 Mark monatlich etwa 40 Prozent meines früheren Nettomonatsverdienstes. Das sind immerhin 1.300 Mark weniger.
In meinem Alter, ich bin jetzt 52 Jahre alt, sehe ich auch keine großen Chancen mehr, angesichts der ständig wachsenden Arbeitslosenzahlen, noch einen Arbeitsplatz zu bekommen. Es sei denn, wir schaffen es, den Unternehmen die 35-Stunden-Woche und weitere Arbeitszeitverkürzungs-
maßnahmen abzuringen.
Klar, daß ich voll hinter der Forderung nach Durchsetzung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich stehe. Genau wie viele andere meiner arbeitslosen Drucker-Kolleginnen und -Kollegen. Und das nicht nur, weil wir Gewerkschafter sind.
Wir haben in München seit März dieses Jahres eine Arbeitsloseninitiative innerhalb unserer Ge-
werkschaft. Es ist ein „Arbeitlosen-Serninar der Arbeitsloseninitiative der IG Druck und Papier“. Ziel unseres Seminar ist es, über Ursachen, Folgen und Alternativen zur Arbeitslosigkeit zu dis-
kutieren. Das waren Seminare über einzelne Wirtschaftsfragen und Fragen des Arbeitsrechts bis zu Themen der Arbeitslosenversicherung und des Sozialrechts.
Als der Streik begann, war für uns klar: Hier ist gerade auch unsere Solidarität gefordert. Und wir haben einheitlich beschlossen, sofort alle Seminare ruhen zu lassen und uns aktiv mit unseren streikenden Kolleginnen und Kollegen zu solidarisieren.
Das sah so aus, daß wir Flugblätter verteilten, an Infoständen mitwirkten, als Arbeitslose mit Transparenten an Demonstrationen teilnahmen. Immer gemeinsam mit streikenden Kollegen.
Wichtig war für mich vor allem, daß wir mit unseren Transparenten auch vor die bestreikten und ausgesperrten Betriebe gegangen sind. Auch als Streikposten. Das verstanden wir unter Solidarität.
Die Arbeitsloseninitiative der IG Druck und Papier in München diskutiert Aktionen zur Unter-
stützung ihrer kämpfenden Kolleginnen und Kollegen. Foto: Schleuning
Auch wir haben Solidarität erfahren, wenn die Kollegen uns zum Teil begeistert empfingen und in vielen Gesprächen und Diskussionen.
Es hat viele Gespräche und Diskussionen gegeben. Zwischen uns arbeitslosen Kolleginnen und Kollegen und den Streikenden und Ausgesperrten. Vor den Betrieben, in Streiklokalen, an den Infoständen. Manche z.B. wußten gar nicht. wie wir als Arbeitslose leben, mit wie wenig manche Arbeitslose monatlich auskommen müssen. Die meisten in unserer Initiative z.B. bekommen nur durchschnittlich 700 Mark monatlich. Mehrmals wurde uns danach von Streikenden und Ausge-
sperrten gesagt, vor allem von solchen, die anfangs nicht ganz von der Richtigkeit der 35-Stunden-Forderung überzeugt waren: Jetzt wissen wir, warum wir für die 35-Stunden-Woche sind. Das war für uns eine wichtige Erfahrung. Ich meine, daß auch die Gewerkschaften für die Zukunft aus die-
sen Erfahrungen Schlußfolgerungen für ihre eigene Arbeitslosenarbeit ziehen sollten.
Der Tarifabschluß hat viele von uns enttäuscht. Auch ich bin der Meinung, ebenso wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen, daß mehr drin gewesen wäre. Trotzdem: Das war erst der Anfang. Der Kampf wird und muß weitergehen. Und gebrochen sind weder unsere Kollegen in den Betrieben, noch wir als Arbeitslose. Das können auch die Unternehmer sich ins Stammbuch schreiben.
Der Kampf um die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche, unser gemeinsamer Streik, wird auch unsere Seminartätigkeit sicher noch sehr lange beeinflussen. Diskussionen darüber werden viel Raum in unserer Tätigkeit einnehmen. Aber es wird mit Sicherheit auch neue. interessante Dis-
kussionen über die Ursachen der Arbeitslosigkeit und der Möglichkeiten, sie zu beseitigen, geben. Wobei viele Kolleginnen und Kollegen bereits jetzt die Frage stellen, ob das in diesem System überhaupt möglich ist.
Übrigens, wir werden diesen Streik durch unsere Arbeitsloseninitiative auch noch auf eine beson-
dere Art und Weise auswerten: Wir haben, mit Hilfe der Gewerkschaft, einen Videofilm über den gesamten Streik hier bei uns in München gedreht. Gegenwärtig sind wir dabei, aus neun Stunden Filmmaterial einen Film von 45 Minuten fertigzustellen. Davon sollten dann möglichst viele Kopien angefertigt und verliehen werden.
Manfred Engelhard
Werner Cieslak (Hg.), Der Kampf geht weiter, Neuss 1984, 185 ff.