Flusslandschaft 1990
Religion
Es kommt öfter vor, dass, wer seine Kirche verlassen hat, trotzdem weiter zur Kasse gebeten wird, manchmal erst Jahrzehnte später.1
Der Staat treibt — ein Erbe der Hitler-Zeit und heute einmalig in der Welt — die Kirchensteuer ein. 1989 erhielten die katholische und die evangelische Kirche zusammen auf diese Weise über 13 Milliarden Mark. Ganz abgesehen davon, dass Bund und Länder erhebliche Zuschüsse, etwa fünf Milliarden Mark im Jahr, für die Besoldung von Priestern, für Schulen, Kindergärten, Pflegeheime und Kirchen abdrücken. Da sich jetzt die ehemalige DDR anschickt, der Bundesrepublik beizutreten, mehren sich die Stimmen, die fordern, dass die in der DDR übliche Kirchen-Finanzierung mit Spenden und freiwilligen Beiträgen auch in der BRD eingeführt wird.2 Den Kirchenoberen gefällt das gar nicht.
„Mit einem Leserbrief nahm der OV Stellung zu der Modelleinrichtung einer Sterbestation in einem städtischen Krankenhaus, für die neben der Stadt München auch christliche Organisationen zuständig sein sollen. Allein, die Kirchenvertreter beanspruchen die Zuständigkeit für die Personalpolitik, ‚nur religiös eingestelltes Personal’ soll zugelassen werden. In der Stellungnahme heißt es: ‚Hoffentlich bleiben das Gesundheitsreferat, die SPD, FDP und die Grünen standhaft gegenüber der Forderung der kirchlichen Mitgesellschafter, dass das Hospiz-Personal auf die ‚christlichen Wertvorstellungen’ verpflichtet werden müsse. Andernfalls müsste das Personal erhebliche Einschränkungen hinnehmen. Würde z.B. ein Arzt eine Mischehe eingehen und ließe sich nicht katholisch trauen, dann würde er nach aller Erfahrung seinen Arbeitsplatz verlieren. Aber nicht nur im Privatleben müssten Einschränkungen hingenommen werden, sondern auch im Arbeitsleben, z.B. bei der innerbetrieblichen Mitbestimmung und bei der gewerkschaftlichen Unterstützung: Vermutlich würde es keinen Tarifvertrag geben, und die Gewerkschaftsvertreter hätten kein Recht auf Zugang zu der Klinik. – Wenn die Stadt nachgäbe, dann wäre abzusehen, dass die kirchlichen Mitgesellschafter das Sterbe-Hospiz als ‚Religionsausübungsbetrieb’ führen würden. Nach der vom Grundgesetz gebotenen strikten Trennung von Staat und Kirche ist es nicht die Sache der Stadt, Religionsausübung zu unterstützen oder gar zu finanzieren. Das Sterbe-Hospiz muss auch solchen Patienten offen stehen, die eine kirchlich geprägte Behandlung und Pflege ablehnen. Jeder vierte Münchner gehört keiner der christlichen Großkirchen an! – Es steht den Kirchen und den ihnen nahestehenden Organisationen frei, nach christlichen Wertvorstellungen arbeitende Sterbe-Kliniken in eigener Trägerschaft zu gründen.“2
1990 treten 10.893 Katholikinnen und Katholiken im Erzbistum München und Freising aus der Kirche aus.
1 Siehe „An die Evang.-Luth. Gesamtkirchengemeinde“ von Heinz Jacobi.
2 Vgl. Horst Herrmann, Die Kirche und unser Geld. Daten – Tatsachen – Hintergründe, Hamburg 1990.
2 Mitteilungen der Humanistischen Union 132 vom Dezember 1990, 75.