Materialien 1960
MANIFEST
1. Die Gruppe TENDENZ ist bestrebt, die wesentlichen künstlerischen Aussagen über die Ten-
denzen unserer Zeit zu versammeln. Unter „Tendenz“ verstehen wir die künstlerische Aussage um eines Themas willen. Die Themen sind die Zustände dieser Welt. Unsere Aussagen sind Aussagen über diese Zustände.
2. Die Gruppe TENDENZ bildet sich aus dem Widerspruch gegen den bloßen Ästhetizismus innerhalb der modernen Kunst, hinter dem sich Ratlosigkeit und – schlimmer noch – Feigheit verbergen: der Verzicht, eine künstlerische Position zur Wirklichkeit im allgemeinen und zur gesellschaftlichen Gegenwart im besonderen zu beziehen.
3. Die Wirklichkeit, in der wir leben, interessiert uns. Die Gegenwart, in der wir schaffen, ist für uns künstlerisch hoch aktuell. Die Gesellschaft, der wir angehören, sehen wir mit Neugierde. Ihre Sorgen sind uns darstellungswürdig, ihre Hoffnungen regen uns an. Für uns gibt es keinen Dua-
lismus zwischen Kunst und Leben. Wir fühlen uns dieser Zeit in einem Sinne verbunden, der uns zu verbindlichen Aussagen über ihre Erscheinungen verpflichtet.
4. Wir bemühen uns um die Gestaltung der realen, positiven und negativen Perspektiven der Wirk-
lichkeit. Wir bekennen uns zur Anschauung Hegels: „Tendenz ist der entwickelbare Kern, der in einer Sache steckt.“ Daraus ergibt sich unser künstlerisches Verhältnis zur Realität. Unsere Gestal-
tung muß der Wirklichkeit genügend nahe sein, um die untersuchte Erscheinung konkret erkennen zu lassen. Sie darf ihr aber nicht so nahe sein, daß die Widergabe der Erscheinung die Auseinan-
dersetzung mit ihrem Wesen verdrängt. Wir kopieren nicht, wir deuten; wir nehmen nicht hin, sondern wir betonen und verwerfen.
5. Den Inhalt unserer Aussagen entnehmen wir der Wirklichkeit. Wir sind keine Konformisten, wir beziehen Stellung. Wir urteilen selbst und fügen uns keinen herkömmlichen Meinungen. Wir ent-
hüllen damit geschickt verborgene Tendenzen unserer Zeit. Das ist die moralische Seite der Kunst. Ihr fühlen wir uns verpflichtet.
6. Die Gruppe TENDENZ unterscheidet sich also von „Tendenzkunst“ im üblichen Sinn durch ihre Freiheit. Sie illustriert keine vorgefaßten Meinungen, sondern untersucht sie. Sie macht keine bildliche Werbung für eine bestimmte Weltanschauung. Jedes ihrer Mitglieder trifft seine Fest-
stellungen zur Zeit.
7. Die Gruppe TENDENZ ist keine Sekte mit bestimmten stilistischen Abzeichen. Es verbindet uns die Auffassung, daß der Inhalt das Rückgrat der künstlerischen Form bildet. Es verbindet uns das Engagement an den Zuständen dieser Zeit. Wir leben in ihr, nicht um sie zu verleugnen. Wir leben in ihr, um sie zu bewältigen.
Das ist unsere T E N D E N Z !
Zit. in: tendenzen 45 vom Juni/August 1967, 187.