Flusslandschaft 1990

Lebensart

Am 15. Januar demonstrieren 150.000 Menschen in Leipzig für die Wiedervereinigung. In Mün-
chen löst das Besorgnis aus. Am 27. Januar findet eine Demonstration gegen das „Vierte Reich“ statt. In einer Forsa-Umfrage vom Februar sprechen sich 70 Prozent der Westdeutschen für eine Schließung der innerdeutschen Grenze aus.

„Die Engländer und Franzosen mag ich schon gar nicht. Jetzt ham sie wieder Angst vor einem Großdeutschen Reich, so ein Blödsinn. DAMALS haben sie uns AUCH vorgeworfen, wir seien zu groß. Wir haben doch eine deutschfeindliche Regierung, die alles für die anderen tut und nichts für das eigene Volk, die Deitschen. — Ältere Schwimmerin im Schyrenbad, München, 5. Juni 1990“1

Die vorherrschende Meinung über die Zustände in der zusammengebrochenen DDR motiviert manche Zeitgenossen zum Widerspruch oder zur ironischen Verstärkung der in den Medien favo-
risierten Auffassung.2

In Moskau wird am 12. September das „Zwei-plus-Vier-Abkommen“ unterzeichnet, Deutschland erhält seine volle Souveränität. Aufgrund des Einigungsvertrages vom 31. August treten die fünf ostdeutschen Bundesländer am 3. Oktober dem staatlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Am 2. Dezember kommt es in München zu Protesten gegen die erste gesamtdeutsche Bundes-
tagswahl, die „Reichsgründungswahl“.

München hat eine neue Mundartdichterin, die es krachen läßt.3


1 Heinz Jacobi, Deutschdeutsch. Materialien gegen ein Volk. Das Anschluss-Lesebuch, München 1990, 319.

2 Siehe „Mit ernsten Worten“ von Heinz Jacobi.

3 Siehe „Biergarten-Stanzerl“ von Barbara Maria Kloos und „Mundart nach Reinheitsgebot“ von Katrin Ammon.