Flusslandschaft 1991

Alternative Szene

Die autonome L.U.P.U.S. Gruppe R/M veröffentlicht im Januar ein heftig diskutiertes Papier, in dem es u.a. heißt: „… Es hat sich wohl weitgehend herumgesprochen. Die Linke im allgemeinen und die Autonomen im besonderen stecken in einer Krise. Die Ereignisse 89/90, der Mauerdurch-
bruch, die politische Ausschaltung der TrägerInnen der DDR-Opposition, der als Staatsvertrag getarnte Kaufvertrag über die Ex-DDR usw. sind nicht der eigentliche Grund für unsere Krise. In ihnen drückt sich vielmehr in aller Konsequenz unsere radikale Abwesenheit aus. Wir waren zu keiner Zeit ein zu beachtender Stolperstein auf dem Weg zur »Wiedervereinigung«. Es ist nicht die Niederlage, die uns so ohnmächtig macht, sondern die Bedeutungslosigkeit, die uns mit den deutsch-deutschen Ereignissen vor Augen geführt wurde. Gab es in den letzten 20 Jahren zu allen Fragen von oben einen Widerstand von unten, der öffentlich beachtet, reformistisch aufgegriffen und repressiv verfolgt werden musste, so waren die wenigen Proteste und Widerstände 89/90 kaum noch eine Randnotiz wert …“1

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Einige begrüßen die Implosion der Herrschaft in den Ländern des sogenannten real existierenden Sozialismus, andere sind entsetzt. Bei vielen häufen sich die Zweifel. Da tröstet es kaum, bei Bert Brecht zu lesen, der dies 1929 schrieb: „Vergiss nicht, dies sind die Jahre, wo es nicht gilt zu siegen, sondern die Niederlagen zu erfechten … Die Jahre der Siege können nach Dir kommen.“ Schließ-
lich sind es einige, unter ihnen ehemalige stimmgewaltige Wortführer, die „die Seiten wechseln“; die heimatlose Linke dünnt aus. Manche erinnern sich an den geflügelten Spruch ihrer saturierten Eltern: „Wer in der Jugend kein Anarchist, kein Autonomer, kein Haschrebell war, hat kein Herz. Wer als Erwachsener Kommunist ist, hat keinen Verstand.“ Da hilft es ein bisschen daran zu den-
ken, dass Aufbruch und Revolte schon immer zur menschlichen Existenz gerade der Jungen gehö-
ren. Bereits in der Zeit des „Sturm und Drang“ lässt Friedrich Schiller vor über 200 Jahren den Marquis de Posa zur Königin in „Don Carlos“ sagen: „Sagen Sie ihm, dass er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen.“ Und heute mahnt Volker Bialas an, dass die Linke den Blick auf die schlechte Wirklichkeit beibehält und zugleich ein Umdenken einleitet.3

(zuletzt geändert am 27.4.2020)


1 www.nadir.org/nadir/initiativ/id-verlag/

2 Plakatsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

3 Siehe „Humanismus statt Intellektualismus“ von Volker Bialas.

Überraschung

Jahr: 1991
Bereich: Alternative Szene