Materialien 1977
Warum ist Vernünftiges plötzlich unvernünftig?
Rede auf der Abrüstungskundgebung 21. Mai 1977
Liebe Sportsfreunde! Wir stehen heute kurz vor der Entscheidung, ob Borussia Mönchengladbach deutscher Fußballmeister wird oder ob Bayern München das noch verhindern kann. Daß ange-
sichts dieses traurigen Ereignisses so viele Menschen hier auf dem Marienplatz stehen, halte ich für beachtlich.
Überhaupt halte ich die Tatsache für beachtlich, daß diese Veranstaltung unter diesem Motto auf diesem Platz stattfinden kann.
Das Wort „Abrüstung“ gehört ja, solange wir denken können … wie lange das her ist, darüber gehen die Meinungen begreiflicherweise auseinander … in den Reimwörter-Katalog derer, die alle guten und edlen Werte für sich in Anspruch nehmen. Bevor man das Wort Abrüstung überhaupt ausgesprochen hat, sieht man sich bereits in die Reihen derer versetzt, die nachts dem Feind die Burgtore öffnen wollen.
Diese ganz bewußt geführten Kampagnen werden von Leuten geführt, die ganz genau wissen, daß unser Engagement für einen Abbau des Wettrüstens nichts mit Ideologien, nichts mit Parteien und schon gleich gar nichts mit Sympathien für irgendeine Art von Kommunismus zu tun hat. Und weil sie es so genau wissen, ist ihr Verhalten besonders verächtlich.
Abschließend dazu möchte ich noch sagen: Es ist eine Ehre für mich, an einer Veranstaltung teilzu-
nehmen, bei der Martin Niemöller spricht.
Sicherlich gibt es eine ganze Reihe von jungen Menschen hier, die nicht genau wissen, wer wirklich Martin Niemöller ist – das ist nicht ihre Schuld, aber es ist ganz gewiß die Schuld der Älteren, daß sie es ihnen nicht gesagt haben, und zwar in voller Wahrhaftigkeit.
Martin Niemöller hat schon einmal an den Schutz des Andersdenkenden geglaubt, der dann in Schutzhaft endete.
Sollten noch Zweifel an der Integrität von Martin Niemöller bestehen, bitte ich alle, darüber nachzulesen, was in den ersten Jahren nach Kriegsende namhafte Politiker aller Parteien über ihn gesagt und geschrieben haben … was sie dann später bedauerlicherweise vergessen haben müssen.
Und damit sind wir schlank zum Thema gekommen:
Zu Krieg und Frieden, zu Abrüstung und Aufrüstung gab es in den Jahren nach 45 Wesentliches von wesentlichen Menschen zu lesen und zu hören. Vernünftiges.
Ja, es ist richtig. Was ist vernünftig? Zu welchem Zeitpunkt ist dann etwas Vernünftiges plötzlich unvernünftig? Weil ja die Vernunft bekanntlich in direktem Zusammenhang mit der jeweiligen Wachstumsrate steht.
Es war damals von hoher Vernunft getragen, wenn einer auf öffentlichen Plätzen ausrief: „Der Gedanke an einen Krieg verbietet sich angesichts der Ereignisse der letzten Jahre von selbst.“
Das ist heute in hohem Maße unvernünftig! Wer es in dieser Deutlichkeit sagt, setzt sich dem Vorwurf aus, die tatsächlichen Gefahren nicht sehen zu wollen.
Kluge Köpfe wie Hermann Kahn und andere sind heute im Gegenteil der Ansicht, es wäre im hohen Grade unvernünftig, einem möglichen Krieg zwischen den Großmächten nicht ins Auge sehen zu wollen.
Damit ist natürlich ein Krieg gemeint, der „erklärt“ wird, der offiziell Anfang und vielleicht auch ein Ende hat. Ein Krieg, der nicht auf Nebenschauplätzen probehalber ausgetragen wird, um neue Waffensysteme zu testen, neue Pflanzengifte oder Gase und Bakterien. Auch von Kampfbienen, Torpedo-Delphinen und ähnlichem ist bereits die Rede.
Es wird offenbar emsig probiert für diese Weltpremiere.
Seit 1945 haben bereits über 300 sogenannte bewaffnete Konflikte stattgefunden.
Der Gerechtigkeit halber muß bemerkt werden, daß die Bundesrepublik so gut wie nicht daran beteiligt war.
Hie und da haben wir ein bißchen an der Ausstattung mitgewirkt. Aber das ist ja gerade der Vor-
wurf, der von einigen Politikern in diesem Lande erhoben wird, daß wir uns trotz der bedrohli-
chen Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht an diesen großen Geschäften beteiligen! Denn alle tun es: Die Sowjets, die Tschechoslowaken, die Franzosen, die Amerikaner, die Cubaner haben gar eine fliegende Revolutionstruppe, die überall dort in Amerika nachhilft, wo keine spontanen Volkser-
hebungen zustande kommen wollen, alle, alle tun es, nur wir klammern uns an ein Gesetz, das verbietet, Waffen in Spannungsgebiete zu liefern.
Daß dann hie und da trotzdem welche ankommen, liegt an der Findigkeit derer, die sie unbedingt haben wollen.
Es muß uns unruhig machen, wenn wir die Meldung lesen:
„Über 200 Millionen Menschen arbeiten auf der Welt für die Rüstung.“
Im Jahre 1972 wurden 181 Milliarden Dollar für Militärzwecke ausgegeben!
Wieviele es heute sein mögen, können Sie sich ausrechnen. Angesichts dieser Eskalation, die im wesentlichen auf den Rüstungswettlauf der beiden Großmächte zurückzuführen ist, erhebt sich die Frage, was das Wort Abrüstung bei den jahrelangen Abrüstungsgesprächen eigentlich noch für eine Rolle spielt.
Es handelt sich bei der Verwendung dieses Wortes um reinen Etikettenschwindel.
Seit vier Jahren tagt in Wien die Konferenz über den Truppenabbau. An anderen Orten spricht man schon des längeren über die Begrenzung der Nuklearwaffen. In Wirklichkeit legt man le-
diglich das Ausmaß des Rüstungszuwachses fest für das jeweils nächste Jahr.
In diesem Jahr bescheiden sich die Großmächte mit einer Overkill-Rate von 60!
Das bedeutet: Man kann sich gegenseitig 60mal vernichten.
Wer bei diesem Overkill-Poker dabei sein will, muß bei Kasse sein. Es ist demnach kein Wunder, daß es Länder gibt, die das Wettrüsten eingestellt haben.
Abgesehen von der stolzen Mitteilung, daß man sich gegenseitig 60mal vernichten kann … im nächsten Jahre wird man sich in „ruhig verlaufenden“ Gesprächen auf die Overkillrate 70 einigen … ist auch die Pro-Kopf-Rate an Sprengstoff erfolgreich erhöht worden. Wer es noch nicht gelesen hat, soll wissen, daß auf den Kopf der Bevölkerung auf der Erde 15 Tonnen Sprengkraft fallen.
Hier wird wohl, so hoffe ich, inzwischen ein Sättigungsgrad an Verteidigungspotential erreicht sein, wobei jeweils die eine der anderen Großmacht vorwirft, daß es sich bei ihren Rüstungsan-
strengungen um Verteidigungspotential handelt, während man im anderen Falle von Angriffspo-
tential sprechen müsse.
Um die Richtigkeit der eigenen Behauptung zu stützen, ist man natürlich gezwungen, nachzuwei-
sen, daß die NATO auf der einen Seite nichts anderes im Sinn hat, als sich bis Wladiwostock vor-
wärtszuverteidigen, während die Sowjets auf der anderen Seite einen neuen Rekord in der Ge-
schichte aufstellen wollen, nämlich in 48 Stunden an der Kanalküste zu sein mit ihren Panzern. Das klingt für die Bevölkerung in beiden Einflußbereichen zunächst unglaubwürdig. Vielleicht lacht man sogar darüber. Aber nicht lange. Meinungen, die nicht vorhanden sind, kann man ja machen. Ein altes chinesisches Sprichwort sagt:
„Meinungen sind wie Nägel: Je mehr du auf sie einschlägst, um so tiefer dringen sie ein.“
Hierzulande, also im NATO-Bereich, ist es schon gelungen, eine Waffe gegen die schnellen Panzer des Gegners zu erfinden. Die Süddeutsche Zeitung meldete, daß es gelungen ist, einen neuen Panzerabwehr-Hubschrauber zu entwickeln, der aus einer sicheren Entfernung von 4 Kilometern mühelos bis zu 10 feindliche Panzer erledigen kann, ohne selbst mit einem Gegentreffer rechnen zu müssen. Der neue Panzerabwehr-Hubschrauber ist: Schnell – treffsicher – jederzeit und an jedem Ort einsatzbereit und selbst nahezu unverwundbar.
Wir sind also in Zukunft vor den sowjetischen Panzern sicher. Nur: Es ist anzunehmen, daß irgend jemand im Kreml die Süddeutsche Zeitung liest. Das wird zur Folge haben, daß sich jemand Ge-
danken macht darüber, ob es nicht sinnlos ist, Panzer überhaupt abfahren zu lassen,wenn es einen Panzerabwehr-Hubschrauber gibt, der mühelos aus einer Entfernung von 4 Kilometern … 10 da-
von abschießen kann.
Die Folge? Man entwickelt einen Panzerabwehr-Hubschrauber-Abwehrpanzer, der aus einer Ent-
fernung von 10 Kilometern jeden Panzerabwehr-Hubschrauber ortet und herunterholt.
Was wiederum zur Folge hat, daß … der ganze Circus von vorn losgeht. Nämlich nach hinten.
Man sieht also: Die Rüstungsindustrie ist die einzige Industrie auf der Erde mit einer ewig ge-
sicherten Wachstumsrate.
So gesehen kann man verstehen, daß auf der letzten NATO-Konferenz in London der Satz fiel, es würden noch große Opfer von allen Völkern verlangt werden müssen.
Und dabei wurde sicherlich nicht nur an Geld gedacht, sondern auch an die letzten Untersuchun-
gen zum Stande des Zivilschutzes. Dabei stellte sich heraus, daß von 100 Menschen nur 9 – 11 einen Schutzraum finden werden, weil es nur für 11 Menschen einen Schutzraum gibt. Kranken-
häuser für Katastrophenfälle besonderer Art gibt es kaum. Was man sich ohnehin denken kann, denn die bestehende Lage auf dem Gebiet der Krankenhäuser ist ja schon ein normaler, permanen-
ter Katastrophenfall.
Dazu der Abgeordnete Wörner auf die Frage, was denn zu tun sei, nachdem man erfahren hätte, daß die Zivilbevölkerung im Kriegsfall praktisch nicht zu schützen sei:
„Es hat deutlich gemacht, daß die Erstellung eines Gesamtkonzepts für die zivile Verteidigung und eine andere Gewichtung dieses Bereichs unabdingbar geworden sind.“
Daraus ergibt sich, daß bei allen Bemühungen um die Verteidigung der Länder ein Faktor ganz un-
berücksichtigt geblieben ist: daß darin Menschen leben.
Dieter Hildebrandt
Wolfgang Beutin/Christian Schaffernicht (Hg.), Friedenserklärung. Ein Lesebuch, Fischerhude 1982, 63 ff.