Materialien 1972

Vom Unfallschutz bis zur sozialpolitischen Bildung – Der Mensch im Mittelpunkt?

Nach eigener Aussage ist das Haus Siemens darum bemüht, Arbeitskraft und Gesundheit der Mitarbeiter des Hauses zu erhalten. Allerdings steht schon in der Berichterstattung über die Unfallstatistik etwas ganz anderes im Mittelpunkt. So heißt es zum Beispiel über die letztjährigen Unfälle, es sei gelungen, sie soweit zu reduzieren, daß gegenüber dem Vorjahr 86.000 Ausfall-
stunden erspart werden konnten. Die Gesundheit der Kollegen, die mit den Unfällen verbundenen persönlichen, manchmal existentiellen Schwierigkeiten interessieren den Betrieb offenbar recht wenig. Übergangen wird auch die Tatsache, daß es sich bei den gemeldeten Unfällen größtenteils um schwere Unfälle handelte, denn 68 von 100 Unfällen führten zu einer Arbeitsunfähigkeit von über 6 Tagen.

Nicht abgenommen, sondern sogar zugenommen haben die sogenannten Maschinenunfälle. Das läßt den Schluß zu, daß vor allem psychische Überbeanspruchung, Ermüdung, Monotonie und besonders Arbeitshetze entscheidende Unfallursachen sind. Doch immer noch versuchen die Be-
triebsleitungen dem einzelnen Kollegen die Schuld zuzuschieben: Unaufmerksamkeit, fehlendes Mitdenken und ähnliches.

Gerade auf das Mitdenken legt Siemens, wenn man den vielen Broschüren und Programmen glauben darf, großen Wert. Was steckt hinter dem Konzept, das sich sozialpolitische Bildung nennt? Ein Mitarbeiter der sozialpolitischen Abteilung charakterisierte die Abschlußlehrgänge für Auszubildende so: „Wir versuchen die Lehrlinge zu kritischen Stellungnahmen zu Betrieb und Gesellschaft zu ermuntern. Im Grunde ist das nichts als Luft ablassen. Denn wer sich auf einem solchen Lehrgang ausgetobt hat, ist dafür in der Werkstatt um so friedlicher. Vor allem wenn er auch einmal persönlichen Kontakt mit den leitenden Kräften unseres Hauses bekommen hat.“ Statt Gesellschaltskritik – Luftablassen: Von der Möglichkeit, wirkliche Probleme anzupacken, ist der Teilnehmer hier weit entfernt, in der Vergangenheit schon und in der Zukunft erst recht, wenn in Feldafing das „Management-Zentrum“ arbeitet.

Bisher geht das so: Lehrlinge, Betriebsräte, Jugendvertreter, Meister oder gar Führungskräfte werden zu „Gesprächen“ aufs Land verschickt. Minutiös durchprogrammiert laufen Vortrag, Filmveranstaltung, Aussprache, Kennenlernen und Freizeit ab. Bei den Lehrlingen etwa wird mit Themen im Stil „Wie führe ich eine Diskussion“ oder „Soziale Fragen im Betrieb“ der kritischen Meinungsäußerung formal Raum gelassen; sie bleibt indessen kontrolliert, im kleinen Kreis, mehr oder weniger in Ferienstimmung, fern der „anregenderen Umgebung“ und der Wirkungsmög-
lichkeit am Arbeitsplatz. Im Vordergrund stehen Selbstdarstellungen des Hauses: „Unser Unter-
nehmen, Produktion, Vertrieb, Firmenbild“, oder „Die Stellung des Hauses Siemens in der Wirt-
schaft“, und natürlich „Wir sind aufeinander angewiesen, die Zusammenarbeit im Betrieb“. Auch praktische Fragen finden im Stil des Hauses Erörterung: „Was kann ich für meine Gesundheit tun“, „Wie bereite ich mich auf die Lehrabschlußprüfung vor“ – und genau die Frage, was hat Siemens datür zu tun, verschwindet im Hintergrund.

Bei den Meistern macht man’s etwas anders: Ihnen wird zum Beispiel klar gemacht, daß Träger der Sozialpolitik an erster Stelle der Betrieb ist, dann, etwas unklar, die Sozialpartner, schließlich der Staat; daß staatliche und betriebliche Sozialpolitik selbstverständlich ihre (engen) Grenzen haben. Und ganz am Schluß gibt’s dann die praktischen Hinweise für den Umgang mit Mitarbeitern.

Führungskräfte erhielten schon bisher eine Extrawurst; Anmeldung gibt es teilweise nicht, nur auf Einladung kommen dann die Auserwählten in die Kurse, die ihnen überzeugendes rhetorisches Auftreten, ihr Verhalten bei Einwänden, Zwischenrufen oder gar Meinungsverschiedenheiten ver-
mitteln sollen. Ungeniert wird als Ziel solcher Kurse Erhöhung der Leistungsfähigkeit angegeben und dafür auch den Arbeitsteams ein Prinzip empfohlen, das dem „Führer befiehl – wir folgen“ oftmals gleicht wie ein Ei dem anderen.

Dennoch erscheint diese Art der Schulung der Konzernspitze zu dezentralisiert. Ab Mai 1974 will sie die reichlich 20.000 Kräfte der oberen und mittleren Führungsschicht in bis zu vierwöchigen Sonderseminaren an die Leine nehmen – straff und konzentriert im 10-Millionen-Bau des „Mana-
gement-Zentrums“ in Feldafing, das dafür außer den Annehmlichkeiten des Starnberger Sees noch mit einer Schwimmhalle und anderen sportlichen (nur sportlichen?) Attraktionen ausgestattet werden soll.


Arbeitsgruppe beim Bezirksvorstand der DKP Südbayern (Hg.), Die große Siemens Familie, Mün-
chen 1972, 83 ff.