Flusslandschaft 1991

Gedenken

Die Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau findet am 5. Mai statt.

Am 26. September, dem elften Jahrestag des Bombenanschlags auf dem Oktoberfest, findet wie je-
des Jahr eine Mahnwache am Ort des Geschehens statt. Bei dieser Gelegenheit werden Flugblätter mit diesem Text verteilt: „Die Hintergründe: Kurz vor der Bundestagswahl – mit dem Kanzlerkan-
didaten F.J. Strauß – sollte durch Verbreitung von Angst und Schrecken der starke Mann herbeige-
bombt werden, einer, der Deutschland wieder zu dem machen sollte, was Hitler auf seine Fahnen geschrieben hatte: ‚Ruhe und Ordnung’ nach innen, Großdeutschland nach außen … Die Untersu-
chungen werden abgebrochen, – obwohl eine Fülle von Zeugenaussagen gegen die Einzeltäter-
schaft Köhlers sprechen, – obwohl die Selbstbezichtigung eines Mitglieds der Wehrsportgruppe Hoffmann vorlag. Die Täter wurden nie gefasst. Sie laufen noch heute frei herum, weil Bundesan-
waltschaft und Kriminalamt unter eifriger Hilfestellung von Strauß und seiner CSU die Ermittlun-
gen bereits nach zwei Jahren endgültig einstellten … Den Mordanschlag der Faschisten vergessen? In einem Land, dessen Staatsorgane die Vertuschung des faschistischen Anschlags auf das Okto-
berfest betrieben, dessen Staatsorgane Faschisten an ‚Führers Geburtstag’ demonstrieren und vor Gegendemonstranten schützen lässt, sie so zu weiteren Bluttaten ermutigt? Wie können wir in einem solchen Land vergessen, in einer Zeit, in der die Regierung selbst auf ihre Fahnen geschrie-
ben und durchgesetzt hat, wofür der Wehrsportgruppenchef Karl Heinz Hoffmann seine Leute trainierte: ein aggressives Großdeutschland im Herzen Europas. Vergessen? Niemals!“ Der presse-
rechtlich Verantwortliche und die Flugblattverteiler werden ein Jahr später wegen „Verunglimp-
fung des Staates“ zu Geldstrafen verurteilt.


In der Seidlvilla am Nikolaiplatz präsentieren Schauspielerin Jai Lybel und Die Interpreten „Für Revolution ist gesorgt. Eine musikalisch-epische Melange mit und ohne Fruchtfleisch – Über 120 Mal in Bayern“. Der Wiener Kabarettist Otto A. Schättle und der für diese web-Seite Zuständige sind für die Texte verantwortlich, die in der Münchner Rätezeit 1919 spielen. Andrea Kreipe stattet die Inszenierung aus, Beate Schuster gestaltet das Programmheft, Franz Braunshausen berät kün-
stlerisch. Im Vorwort heißt es: „NOCH SIND WIR MENSCHEN nicht soweit. Abhängig von rituali-
siertem Gedenken, den Festtagen verfallen, um uns billig zu erlösen, nur manchmal bereit, zu wei-
nen, wenn alle lachen. Für Revolution ist gesorgt! Wirklich? Welche Revolution denn? Die Expro-
priation der Expropriateure? Die quittierte Bestätigung der Unterbringung aller gebührend Ent-
schuldigten und Gemäßigten? Die Entwertung aller Pflichten oder die Erfüllung der zehn Gebote? Vielleicht die Ermordung Gottes, denn der Mensch schuf ihn nach seinen Ebenbild. – Aber warum ihn so nennen, diesen Abend? Von einer Revolution sind wir meilenweit entfernt. Und Erkenntnis aus dem Bauchladen – natürlich muss sie einfach sein – sie gibt es nicht. – 1918/19, für kurze Zeit, schienen die Bewohner dieser Stadt zu ahnen was Freiheit bedeutet. Aus dem kleinen Glück, das alle immer wieder zu fassen suchen und das sofort wieder zwischen den Händen versickert, schien damals ein großes, ein neues, mächtiges Glück möglich zu werden. Klassengegensätze und Kada-
vergehorsam standen zur Disposition. „Empor zum Licht“ sangen viele, nicht alle, und diejenigen, die ihre Interessen bedroht sahen, mobilisierten gegen die Revolution mit Gewehren und Gebeten. Innerhalb weniger Monate überschwemmte die Stadt eine Flut von Plakaten, wurden Flugzettel von Lastwagen und Aeroplanen abgeworfen, brachten die Zeitungen, die den verschiedenen Partei-
en nahestanden, immer neue, andere, sich widersprechende Nachrichten. Wie sehr muss diese Vielfalt unterschiedlichster Positionen und Interessen, die sogar uns Nachgeborenen nur zum Teil erklärbar sind, die Zeitgenossen aufgewühlt, verwirrt oder verstört zu haben. Es waren nicht viele, die ihren Klassenstandpunkt klar erkannten. – Im Untergrund konspirierten Antisemiten; Intrigen und Denunziationen sabotierten die Revolution; Schieber machten dicke Geschäfte, und Revolutio-
näre versuchten in einem ausgebluteten Land, das durch die Entente-Mächte von allen Einfuhren abgeschnitten war, so dass alle Räder wirklich still standen, eine neue, bessere Welt aufzubauen. – Am 1. Mai 1919 rückten diejenigen, deren Beruf das Töten ist, in München ein. Sie richteten ein Blutbad an. Der Marsch ins Dritte Reich konnte beginnen. Bayern wurde zur Hochburg grob-
schlächtiger Chauvinisten, bierseliger Kraftmeier, karrieregeiler Paragraphenschlüpfer und zyni-
scher Demagogen. – Unsere Zeit und deren Verstörung vor Augen gibt für Optimismus wenig Hoffnung. Geistige Versteppung überall lässt Emigration sinnlos werden. Nur weil wir die wirkli-
chen Auswege nicht erkannt haben, sollen wir stolz sein auf verpasste Chancen und verlorene Schlachten? Es gibt wirklich nichts zu feiern. – Eigentlich ist dieser Abend eine Zumutung, aber für wen?“1

(zuletzt geändert am 25.6.2020)


1 Programmheft „Für Revolution ist gesorgt“, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

Überraschung

Jahr: 1991
Bereich: Gedenken