Materialien 1972

Siemens in München – „Ort der Harmonie und der Lebensfreude“?

Aus Rathaus und Konzernspitze hört man immer wieder: München profitiert von seinem größten Steuerzahler. Profitiert die Stadt wirklich von den 20 Millionen, die Siemens in München an Steu-
ern bezahlt? Zunächst ist es so, daß bei Siemens 50.000 Arbeiter und Angestellte aus München und Umgebung beschäftigt sind. Sie werden vom Bund, vom Land und von der Stadt mit reichlich 100 Millionen DM allein an Lohnsteuer viel kräftiger zur Kasse gebeten als der Konzern – und sie haben weder die Möglichkeit der großkapitalistischen Verschleierung ihrer Einnahmen, noch fließen in ihre Taschen profitable öffentliche Aufträge und reiche Steuergeschenke zurück.

Ganz anders bei Siemens. Der brauchte nur mit einigen Versprechungen und mit einigen Drohun-
gen aufzutreten, und schon hatte er 3 Millionen DM Grunderwerbssteuer für das 450.000-Qua-
dratmeter-Gelände in Neuperlach gespart. Oberbürgermeister und Stadtrat, sonst immer schnell zur Hand mit der Streichung von Mitteln für Schulen und Wohnungsbau, verzichteten im Fall Siemens großzügig auf die Millionen. Und warum? Es hieß, Siemens könnte sonst woanders hin-
gehen, und damit würde die Bevölkerung 15.000 neue Arbeitsplätze und die Stadt eine wichtige Steuerquelle verlieren. Inzwischen ist klar, und der damalige Generaldirektor Tacke hat es bestä-
tigt: für die Denkfabrik in Neuperlach kam von vornherein kein anderer Standort in Frage als München. Auch die Masse der neuen Arbeitspiätze ist ein Märchen; bis l975 sieht das Entwick-
lungsprogramm in Neuperlach nur etwa 3.000 Beschäftigte vor, und davon bestimmt drei Viertel aus den bisherigen Laboratorien und Betriebsteilen an der Hofmannstraße. Auch bei völligem Ausbau ist längst nicht mehr von l5.000, allenfalls von 8.000 Beschäftigten bis zum Jahr 1980 die Rede. Was schließlich die Steuern für die Stadt betrifft, so wird München auch da sein blaues Wunder erleben. Die Gewerbesteuer fließt nämlich nur aus Produktionsbetrieben, und die verla-
gerte Siemens planmäßig immer mehr in die Provinz, wenn nicht gar ins Ausland. In München aber will man sich mehr und mehr „auf die Funktionsbereiche Führung, Stäbe, Denkprozesse und Nullserien ausrichten“, nachzulesen in der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ vom 11. Juni 1971. Dem könnten die Gemeinden zwar durch Erhebung der Lohnsummensteuer beikommen, aber deren Anwendung hat die bayrische CSU-Regierung vorsorglich bereits im Fall Messerschmitt-Bölkow-Blohm in der Gemeinde Ottobrunn verboten.

So klappt das, und der Stadt und ihrer Bevölkerung bleiben von der Konzerntätigkeit nicht etwa Vorteile und Einkünfte, sondern immer nur die riesigen Folge- und Nachfolgelasten – in Neuper-
lach und anderen Randsiedlungen bis zu 100 Millionen DM. An denen allerdings stößt sich Sie-
mens wiederum gesund, angefangen bei der Verkehrsplanung, die den Mittleren Ring genau vor die Siemens-Tore geführt hat, bis zur U-Bahn-Projektierung, die den Anschluß von Neuperlach genau im Rhythmus der Planung für die Siemens-Denkfabrik vorsieht. Und immer ist Siemens dabei, mit der Bau-Union, mit dem Bau und der Ausstattung der U- und S-Bahn-Wagen, und vor allem natürlich auch beim Zwei-Milliarden-Geschäft des Olympiabooms, von den Kabeln über die Osram-Tiefstrahler im Stadion bis zu dem Riesengeschäft der elektronischen Anlagen und der Nachrichtenübermittlung mit Presse- und Fernsehzentrum, für die die Bundespost allein 700 Millionen DM aufwendete. Nur von einem haben wir nichts gemerkt, von dem Versprechen Dr. Tackes: „Wir sollen daran mitarbeiten, diese schöne Stadt als einen Ort der Harmonie und der Lebensfreude zu erhalten, und wir sind auch bereit, dafür Opfer zu bringen.“ Das Opferbringen hat Siemens noch allemal der Bevölkerung, seinen Arbeitern und Angestellten überlassen. Und was die Lebensfreude angeht, so werden wir davon auch in München immer nur soviel haben, wie wir uns davon nicht in Harmonie mit Siemens, sondern im Klassenkampf gegen das Konzernkapital er-
obern.


Arbeitsgruppe beim Bezirksvorstand der DKP Südbayern (Hg.), Die große Siemens Familie, Mün-
chen 1972, 58 f.