Flusslandschaft 1945

Gewerkschaften/Arbeitswelt

Alte Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Kommunisten und ehemalige Widerstandskämpfer grün-
den in München wie in vielen Städten nach dem Einmarsch der Alliierten so genannte „Freie Ge-
werkschaften“, die die Militärregierung im September wieder auflöst. Mitglieder der Arbeiterbe-
wegung sprechen nach der Befreiung nicht von Wiederaufbau, sondern von Neubeginn, nicht von Rekonstruktion der Zeit vor 1933, sondern vom Aufbau eines Landes der wirklichen Demokratie, des Friedens und der Freiheit.1

Am 28. Oktober findet die erste Großveranstaltung der Arbeitsgemeinschaft freier Münchner Ge-
werkschaften
im Prinzregententheater statt. Als Hauptredner bedauert Gustav Schiefer, dass die Nazis den deutschen Namen in der Welt mit Schimpf und Schaden befleckt hätten und selbst noch die Enkel mit diesem Kainsmal gezeichnet sein würden. Und doch gehe das Leben weiter. Nur wenn die Arbeiter brüderlich zusammenstünden, könne das Furchtbare überwunden werden. Die Arbeiterschaft habe in ihrer geistigen Kraft die Sozialistengesetze von 1878 bis 1890 und auch den Hitlerismus überdauert. Schiefer ruft: „Rottet nicht nur den Nazi- und Militärgeist, nein, auch den Schieber in jeder Gestalt, den Lungerer und Prasser, den Hehler und Stehler und Plünderer restlos aus!“ Populäre Worte, die vergessen lassen, dass Stehlen und Schieben oft als einzige Mittel zum Überleben bleiben.

Am 1. November schreibt Papst Pius XII. an Kardinal Faulhaber: „Zum Gebiet der sozialen Frage gehört aber zweifellos in erster Linie jener Streitpunkt, der sich auf den zu gründenden Verband aller Arbeiter bezieht, die, wie Ihr schreibt, ‚demnächst in einer einzigen Körperschaft‘ zusammen-
geschlossen werden sollen. Wir weisen nun darauf hin, daß die Form und Art eines derartigen Zu-
sammenschlusses zeitweilig zugelassen werden kann, solange die gegenwärtigen außerordentli-
chen Verhältnisse andauern. Da aber diese Art und Form nicht frei von großen Gefahren ist, wird es sicherlich Aufgabe Eurer Sorge und Wachsamkeit sein, die Bestrebungen der Arbeiter und voreilige Absichten so zu lenken und zu leiten, daß diejenigen unter ihnen, die katholisch sind, nicht abirren von den Lehren der Gesellschaftslehre, die, aus dem Evangelium und dem Naturrecht geschöpft, schon früher so klar und richtig von Unseren Vorfahren überliefert worden sind. Das eine vor allem soll mit aller Kraft erreicht werden, daß aus diesem einen Verband zusammenge-
schlossener Menschen nicht ein scharfer Kampf gegen die bürgerliche Ordnung und nicht ein Streit der politischen Parteien entsteht, sondern daß vielmehr unsere Arbeiter, jeder nach seinem Können, zur Eintracht, Ordnung und Beständigkeit des gesellschaftlichen Lebens beitragen.“2

Das Jahr 1945 ist das Jahr, in dem sich die Menschen vor allem ums Überleben kümmern. Mit der Einrichtung einer neuen Gesellschaftsverfassung, in der das Demonstrationsrecht zu den Grund-
rechten gehört, entsteht eine neue Protestkultur. Zunächst wird gegen die erbärmliche Versor-
gungslage und die Gewinner der Krise demonstriert („Todesstrafe für Schieber“). Die Gewerkschaf-
ten sind die ersten, die vorsichtig der Wut ein Ventil öffnen.

(zuletzt geändert am 19.6.2024)


1 Ludwig Koch, 1946 bis 1949 Jugendsekretär des DGB-Kreis München und von 1953 bis 1973 Münchner DGB-Kreisvorsit-
zender, erinnert sich an die Blockade-Haltung der US-Administration: „München, wie es anfing“.

2 Zit in: werden 90/91. Jahrbuch der deutschen Gewerkschaften, Köln 1991, 222.