Flusslandschaft 1992

Medien

„Mertes wieder auf Sendung – Franz Steinkühler auf einer Kundgebung am Rednerpult, er bewegt den Mund, doch es kommt kein Ton heraus. Statt dessen ertönt ein Koloratursopran aus Mozarts Zauberflöte: die Königin der Nacht. Ist Steinkühler der König der Nacht, der die deutsche Wirt-
schaft zugrunde richtet? Genau so ist es gemeint in ,Report’ aus München, den die ARD mit dem auf dem Bildschirm zum Verstummen gebrachten Steinkühler Anfang April bundesweit ausstrahl-
te. Hier agitierte Heinz Klaus Mertes, der Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks von CSU-Gnaden, der nach dem Protest seiner ARD-Kollegen für einen Monat wegen seiner Lügen und Ver-
leumdungen gegen Manfred Stolpe und Günter Wallraff aus dem Verkehr gezogen werden musste. Mit Kummermiene stellte er fest, dass ,nach acht herrlichen Jahren des stetigen kraftvollen Auf-
wärts jetzt Wolken am deutschen Wirtschaftshimmel aufgezogen sind, die das Zukunftsvertrauen erschüttern’. Wer erschüttert ihn und die deutsche Wirtschaft? Natürlich die Gewerkschaften und die Arbeiter, die schuld daran sind, dass jetzt ,Deutschlands Unternehmer flüchten’. Das Mertes-Magazin: ,Ganz oben auf der Negativ-Hitliste der Unternehmer: Klagen über hohe Lohnkosten.’ Trotzdem führen die Gewerkschaften Tarifverhandlungen, fordern höhere Löhne, das ist, so will ,Report’ die Arbeiter aufklären, ein ,Festhalten an Ritualen’, das sind ,falsche Töne zur falschen Zeit’. Kein Wort über Preissteigerungen, dem Steinkühler ist in ,Report’ der Mund verboten, es ertönt nur die laute Klage über ,unerfüllbare Forderungen’ der Gewerkschaften. ,Report’-Macher Mertes, der vom ,managermagazin’ zum Bayerischen Rundfunk kam, verdient sich in München ein Zubrot, indem er Unternehmer schult, wie sie kritische Fragen seiner Fernsehkollegen ausweichen können. Für die Gewerkschaftsschelte lässt er in Report einen ,neutralen’ Kronzeugen auftreten. Ausgerechnet Jack Schmuckli, den Chef der Deutschlandvertretung des japanischen Sony-Kon-
zerns. Er verlangt japanische Verhältnisse in Deutschland: ‚längere Arbeitszeiten, sehr wichtig, so-
wohl bei den Wochenarbeitszeiten als auch weniger Urlaub, Produktion around the clock (rund um die Uhr) auch am Wochenende’. Beifall von ,Report’: ,Während die einen immer noch in Tarifbe-
zirken denken, planen die anderen schon im Weltmaßstab’ – japanische Arbeitsverhältnisse für die ganze Weh. Noch dieser Propaganda-Runde für die Unternehmer-Funktionäre saßen in der darauf folgenden Sendung ,Nachgefragt’ nicht etwa die andere Seite, also Arbeiter und Gewerkschafter im Studio, sondern ausschließlich Mertes-Jubler: mittelständische Unternehmer, von denen sich viele froh und begeistert über den Wahlsieg der Rechtsextremisten am Wahlsonntag zuvor äußerten. Einer bedankte sich bei Mertes für die ,radikale Darstellung’: ,Dieser Report war ein guter Re-
port.’“1

Private Fernsehsender gehören, neun Jahre nach ihrer Einführung, fast ausschließlich Medien-Multis: Springer, Bertelsmann, Kirch, der Luxemburger CLT und Großverlagen wie der WAZ, Holtzbrinck („Handelsblatt“) und Bauer („TV Hören und Sehen“). Sie kassieren mehr Geld aus der Werbung wie die öffentlich-rechtlichen Anstalten und verweisen zusammen in der Zuschauergunst ARD und ZDF auf den zweiten Platz. Der Quotendruck veranlasst die Öffentlich-rechtlichen, ihre Programme auf das Niveau der Privaten herunterzufahren und Anspruchsvolles in die späten Abendstunden zu verbannen. Christine Krämer (22), Auftragsbearbeiterin bei Meiller in München: „Fernsehen? Das ist außer den Nachrichtensendungen für mich kein Thema mehr. Als Schülerin bin ich oft vor der Glotze gesessen. Inzwischen will ich meine Zeit nicht mehr so sinnlos vertun. Mein Sohn wird bald zwei Jahre – der soll kein Fernsehkind werden. Auch deshalb kaufen wir uns kein größeres Gerät. Manchmal, wenn ich abends furchtbar kaputt bin, dann will ich mich vorm Fernseher entspannen – und ärgere mich jedesmal hinterher, weil ich feststellen muss: Das hat’s nicht gebracht. Was an Unterhaltung geboten wird, ist so dumpf und dumm.“2

„Es ist schwer und mühsam geworden, die Sachverhalte zu klären. Aber die Fakten haben sich im Medienschein nicht aufgelöst … Einen anderen Zugang zur Welt im ganzen als den durch die Medi-
en haben wir nicht … Das Großbild lässt sich im ganzen und in vielen seiner Teile an den Mikro-Bildern von der Welt messen, die wir selbst doppelt erfahren, als Teilnehmer der Ereignisse und als Medienkonsumenten. Wer zum Beispiel gelegentlich längeren Debatten selbst beiwohnte, bevor er dann die Fernseh- oder Zeitungsausschnitte über sie sah, wer selber einige Zeit in Tansania, In-
dien oder Niederschelden lebte, in einer Partei, Bürgerinitiative oder Hausbesetzergruppe mitge-
macht hat und gleichzeitig die gewöhnlichen Medienbilder von ihnen empfing, lebt nie mehr ganz in der Welt, die in den Medien entsteht.“3

(zuletzt geändert am 9.3.2019)


1 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 8 vom 21. April 1992, 6 f.

2 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 25 – 26 vom 14. Dezember 1992, 12.

3 Thomas Meyer, Die Inszenierung des Scheins. Frankfurt/Main 1992, 116 f.

Überraschung

Jahr: 1992
Bereich: Medien

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