Flusslandschaft 1997

Kunst/Kultur

»Frühling 1997 // Durchaus lyrisch / verkünden die Forsythien ihre Wiedergeburt. // Die Schwä-
ne, betrogene Eiskunstläufer, / tun gelassen ihre Pflicht. // Die Röcke der Frauen / werden wieder kürzer, / die Väter / polieren die Fußbälle ihrer Söhne. // Klonschaf Dolly / wird Playmate of the Year, Jungfrau Maria / entpuppt sich als dreischweifiger Hale-Bopp-Komet. // Die Deutsche Bank errötet in den Medien, / die Gnome von Zürich / suchen die Schlüssel zu Nazi-Konten. // In Zaire fressen Fliegen Leichen, / die arktischen Pinguine / kuscheln sich ahnungsvoll aneinander. // Die ‚Titanic’ plant ihre Auferstehung / in der Hand von Steven Spielberg. // Die Sonne scheint, da sie / keine andere Wahl hat, / auf das Nichts des Neuen, schamlos.«1

BILDENDE KÜNSTE

München glaubt, schick und in zu sein. Tatsächlich wird es im internationalen Vergleich als pro-
vinziell empfunden. Robin Page, der Paradiesvogel unter den Professoren an der Münchner Aka-
demie der Bildenden Künste
, Akademiestraße 2 – 4, gibt seiner Verachtung Ausdruck.2

Lothar-Günther Buchheim will seine Expressionisten-Sammlung und weitere Nebensammlungen seiner Geburtsstadt Weimar überlassen, es sei denn, der bayrische Staat und sein Parlament unter-
stütze ihn. Ministerpräsident Stoiber sagt ihm, das bleibe alles hier. Da mucken die Feldafinger auf und veranstalten ein Bürgerbegehren. Buchheim: „Dass ein paar Psychopathen, Altnazis und ein wildgewordener Golfverein einen Parlamentsbeschluss umstülpen könnten, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Man muss was unternehmen gegen diesen Wahn von Bürgerbegehren. Denen ging es nicht um Kunst, sondern um Parkplätze und die Diktatur der Dümmsten.“3

Wolfgang Z. Keller plant auf den Olympiaberg seine Installation „… der werfe den ersten Stein“ zu stellen. Ein Glashaus, für Besucher offen, zeigt hinter einer Glaswand ein riesiges Porträt von Adolf Hitler. Keller will den Besucherinnen und Besuchern die „eigene Anfälligkeit für totalitäre Ziele, für Gewaltbereitschaft und Lethargie“ vor Augen führen. Das Gartenbauamt hat die Genehmigung schon erteilt, da protestiert die jüdische Gemeinde gegen das Projekt. Oberbürgermeister Ude zieht die schon erteilte Genehmigung zurück. Erst im März 1998 kann die Installation für wenige Tage im Klosterhof von St. Bonifaz gesehen werden.

THEATER

Ein freies Theater, PUNKTUM – pädagogisches, präventives Theater für Jugendliche, fällt durch alle Raster, so dass es ohne finanzielle Unterstützung aufgeben muss.4

Der Theaterpreis der Landeshauptstadt geht an Alexeij Sagerer und sein Prozessionstheater proT. Die Jury: „Seit 1969 macht Alexeij Sagerer hier in München sein Prozessionstheater, sein unmittel-
bares Theater. Sagerer ist gewiss der eigenständigste, eigenwilligste Theatermacher in der freien Szene der Stadt. Sowohl Sagerers Theaterarbeit insgesamt als auch die einzelnen Produktionen sind theoretisch fundiert, seine Gedanken zeugen von einem genauen tiefen Theaterverständnis. Er hat stets neue Wege gesucht, zumal im Experiment mit neuen Darstellungsmitteln wie Film und Video.“5

(zuletzt geändert am 10.7.2020)


1 Heinz Vestner, Gedichte 1963 – 2003. Eine Auswahl, München 2003, 17.

2 Siehe „Eingekrempelter Krempel“ von Robin Page.

3 Stern 19 vom 30. April 1997, 160.

4 Siehe „Mehr als nur Theater“.

5 https://www.prot.de/jetzt.php