Flusslandschaft 1998
Militanz
Heribert Prantl schreibt in der Süddeutschen Zeitung vom 21./22. März, dass „die Bürger nicht mehr brav sein wollen“, und lädt zugleich zum Widerstand ein, der auch die Grenzen der Legalität überschreiten dürfe. Er löst damit eine Flut von Leserbriefen aus. Die einen befürchten, Rechtsex-
treme könnten durch diesen Text genauso zum „Widerstand“ motiviert werden, andere befürchten die Zerstörung des Rechtsstaats, zwei Münchnerinnen geben Prantl recht: „Ich frage mich schon lange, warum die Leidensfähigkeit am Abbau der Demokratie immer noch zu wachsen scheint, nachdem die Schritte dahin nicht mehr unmerklich, sondern längst groß und sichtbar sind. Wahr-
scheinlich bedarf es einer noch größeren Katastrophe sozialer, ökologischer, kultureller Art, bis
die von Prantl angesprochenen Gruppen gemeinsam eine wirklich neue Politik einfordern und den verstummten Bürgern, zu denen ich mich aus Ratlosigkeit leider auch zählen muss, die Sprache des Protestes geben. Denn der ‘Widerstand der kleinen Münze’ scheint von den Regierenden abzu-
laufen wie Wasser von fetter Haut.Uta Riemerschmid-von Rheinbaben, München – Mir scheint es an der Zeit, sich gegen eine Entwicklung zu wehren, die bei jedem human und christlich denken-
den Menschen einen heiligen Zorn hervorrufen müsste: Die Kaltschnäuzigkeit, die Ignoranz, die Überheblichkeit, der Zynismus und die Verlogenheit, mit dem derzeit Landes- wie Bundespolitik gedacht, gemacht und zugelassen wird. Dazu nur einige Stichpunkte: 16jährige Ausländerin muss vor Schulabschluss raus! 50 Prozent Fachpflegepersonal in Pflegeheimen ist zu viel (trotz Milliar-
denüberschüsse)! Eine Patientin braucht drei Ärzte, damit sie die lebensnotwendigen, teuren Medikamente bekommt! Die Arbeitslosenzahl wird (nach der Wahl) halbiert! Asylbewerber bekommen monatlich 50 Mark, Herr Töpfer 495.000 Mark Abfindung! Zum Glück gibt es noch Menschen, die daran erinnern, dass uns (noch) friedliche, demokratische Möglichkeiten zur Verfügung stehen, einer gefährlichen und zutiefst unmoralischen Politik entgegenzuwirken, die den Wert des Geldes um vieles höher schätzt als den Wert des Menschen (außer den Wert von Politikern)! Karin Scheidacker, München“1
Im April gibt die Rote Armee Fraktion (RAF) in einem achtseitigen Schreiben ihre Selbstauflösung bekannt. Mit der Tätigkeit der RAF begründet waren in den letzten Jahrzehnten Bürgerrechte insbesondere von Angeklagten und Verteidigern eingeschränkt und die Macht der Exekutive ausgebaut worden. Nach dem Ende der RAF bleiben die Einschränkungen bestehen, behält der Staat diese einmal an sich gebrachte Vormachtsstellung.
1 Süddeutsche Zeitung 73 vom 28./29 März 1998, 13.