Flusslandschaft 1998
Psychiatrie
„Keupp:… Viele können sich vielleicht noch daran erinnern: In den sechziger Jahren gab es diese Skandalgeschichten um die Psychiatrie in den Medien. Der ‚Stern’ hatte eine riesengroße Reporta-
ge gebracht, und die Bilder, die man vom Zustand hinter den hohen Mauern in den alten psychia-
trischen Anstalten oder Irrenanstalten sehen konnte, waren erschreckend. Damals entstand eine Reformbewegung – sicher mitgeprägt und stark motiviert durch die Studentenbewegung, die für mich eine zweite wichtige Universität war -, neben meinem Dorf, bei dem wir schon waren. Wir haben uns damals auf den Weg gemacht, eine alternative Psychiatrie zu entwickeln. Küpper: ‚So-zialpsychiatrische Dienste’ hieß das, glaube ich. Keupp: Genau, das war das konkrete Projekt: Wir wollten es schaffen, für Menschen in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen, in ihren Gemein-den – man spricht daher auch von ‚Gemeindepsychiatrie’ -, Hilfsangebote zu schaffen, so dass dann, wenn jemand in einer schweren Krise steckt, diese Person nicht irgendwohin in eine oft hundert Kilometer entfernte geschlossene Anstalt gebracht wird. Wir waren davon überzeugt, dass viele dieser Krisen eine langfristige oder gar Dauerunterbringung in einer psychiatrischen Anstalt überhaupt nicht rechtfertigen. Küpper: Ist denn dieses Konzept aufgegangen? Ist das gelungen, was Sie sich damals vorgestellt hatten? Keupp: Ja, ich denke, wir haben heute in einer Stadt wie München ein flächendeckendes Programm sozialpsychiatrischer Dienste. In allen Stadtvierteln gibt es dafür Anlaufstellen. Ich wünschte sie mir noch ein bisschen besser ausgebaut. Aber der Bereich der sozialpsychiatrischen Dienste existiert mittlerweile flächendeckend in Bayern. Das müsste man noch deutlich weiterentwickeln, aber das ist eine wichtige Leistung der letzten 20, 25 Jahre …“1
1 Professor Dr. Heiner Keupp, Professor für Sozialpsychologie an der Universität München, im Gespräch mit Wolfgang Küpper, α-forum, Sendung vom 17. Juni 1998.