Flusslandschaft 1999
Flüchtlinge
„Offener Brief – An Herrn Otto Schily, Bundesminister des Inneren – Sehr geehrter Herr Schily! Vor Jahren sind Sie angetreten, um einer Minderheit zu ihrem Recht zu verhelfen, auch wenn Sie deren Taten missbilligten. Diese Haltung hat Ihnen unsere Hochachtung eingetragen. – Wir appellieren an Ihren Gerechtigkeitssinn! Bitte setzen Sie sich für die Verbesserung der Asylgesetze ein. Deren jetzige Fassung verdient ihren Namen nicht. Das Asylbewerberleistungsgesetz führt zu menschenverachtender Behandlung von Fremden, die bei uns Schutz vor Verfolgung und Lebensgefahr suchen. Dies Gesetz erkennt Flüchtlingen ein Versorgungsgeld zu, das erheblich niedriger als der Sozialhilfesatz liegt. Sind sie Menschen zweiter Klasse? Und die Summe wird ihnen nicht ausgezahlt, sondern sie erhalten zweimal wöchentlich Lebensmittelpakete. Diese Verpflegung ist großenteils minderwertig, sie entspricht nicht den Lebensbedürfnissen der Empfänger. Immer wieder treten sogar Krankheiten infolge von Fehlernährung auf. Verdächtigung und Bevormundung wirken kränkend. – Wir schämen uns als Deutsche für die von unserer Regierung bewusst und gewollt bürokratisch verankerten Menschenrechtsverletzungen. – Die Flüchtlinge befinden sich in einer außerordentlich unsicheren, von allen Seiten bedrohten Situation. Sie mussten alles verlassen, was ihre Lebensgrundlage war; sie wohnen äußerst beengt in Lagern; Angst und Trauer um Angehörige begleiten sie; kurzfristige Duldungstermine halten die ständige Angst vor Ausweisung wach. Es verletzt die Menschenwürde der Flüchtlinge, dass sie zusätzlich mit demütigenden Maßnahmen belegt werden. – Ausländerrecht darf Flüchtlinge nicht nur aus der Sicht möglicher Gefährdung der öffentlichen Ordnung behandeln, die abgewehrt werden muss. Als Minister haben sie versprochen, Schaden von der Bundesrepublik Deutschland abzuwehren. Der innere Friede kann nicht durch ausgrenzende Ausnahmen erreicht werden, die den Fremdenhass schüren. Fördern Sie Toleranz und Solidarität! Münchner Friedensbündnis, c/o Friedensbüro e.V.“1
„1999 sieht sich die Karawane München mit Abschiebeandrohungen gegen eigene Mitglieder konfrontiert. Die konkrete Verhinderung von Abschiebungen wird zu einem wesentlichen Grundelement der Karawane-Aktivitäten, nicht zuletzt mit spektakulären Aktionen am Flughafen. Schon der erste Fall wird zum Erfolg: Mboso Y., Flüchtling aus der D.R. Kongo und Karawaneaktivist gerät mit seiner Familie 1999 unter extremen Druck; seine ‚Grenzübertrittsbescheinigung’ wird vom Landratsamt München jeweils nur noch für zwei bis drei Tage verlängert. Mitglieder der Karawane München begleiten Mboso Y. zu jedem Termin bei der Behörde, und suchen für die Familie eine neue anwaltliche Vertretung. Heute lebt die Familie mit einem unbefristeten Aufenthaltstitel in einer oberbayerischen Kleinstadt. Mboso Y. hat die Erfahrungen, die er in der Karawane München gemacht hat, an andere Flüchtlinge weitergegeben und so viele andere vor der Abschiebung bewahrt. – Einer neuen Bedrohung sehen sich im Frühjahr 1999 die togoischen Flüchtlinge ausgesetzt. Die Zentralstelle Rückführung bei der Regierung von Oberbayern und die Bundesgrenzschutzdirektion Koblenz organisieren einen Sammelanhörungstermin mit Vertretern der Botschaft Togos in einer Münchner Flüchtlingsunterkunft. Dort sollen den vorgeladenen Flüchtlingen Heimreisepapiere ausgestellt werden, damit ihre Abschiebung möglich wird. Die Karawane München organisiert am 22. und 23. März Aktionen vor der Unterkunft, um zum einen gegen die brutale Diktatur in Togo zu protestieren und zum anderen die vorgeladenen TogoerInnen davor zu warnen, der Ladung zur Abschiebeanhörung zu folgen.2 Einige lassen sich nicht vorführen und können sich durch ihre Verweigerung retten. Viele von ihnen leben inzwischen legal in Deutschland (siehe 2004). Unser Freund Julien flieht nach Kanada, wo er schnell als Flüchtling anerkannt wird. Alilou gelingt es, sich in Spanien legalisieren zu lassen. Leider folgen viele TogoerInnen dem Boykottaufruf nicht und so ist die Karawane München schon bald gefordert, mit Flughafenaktionen anstehende Abschiebungen zu verhindern.“3
„6. Mai 1999: Marcel Biam soll mit Polizeibegleitung von München über Brüssel nach Togo ausgeflogen werden. 15 AktivistInnen stehen am Check-in und fordern Passagiere und die Crew der SABENA auf, die Abschiebung zu verhindern. Zwar gelingt es den Abschiebebehörden, ihn bis Brüssel zu bringen, aber dort scheitert der Weiterflug, weil Marcel Biam sich beim Umsteigen widersetzt; Marcel Biam kehrt noch am gleichen Tag nach München zurück.“4
„Der Protest gegen die Botschaftsvorführungen und die Aufklärung der Flüchtlinge über ihren Zweck bleiben für die Karawane München ein Dauerbrenner. Im September 1999 laden die Behörden tamilische Flüchtlinge zu einer zentralen Abschiebeanhörung mit einer Delegation aus dem Bürgerkriegsland Sri Lanka, die Heimreisescheine für abgelehnte tamilische Asylsuchende ausstellt. Die Karawane und tamilische Exilorganisationen starten eine gemeinsame Protest- und Boykottaktion. Diesmal gelingt der Boykott: Ermutigt durch die protestierenden AktivistInnen, insbesondere durch die Präsenz tamilischer Landsleute, die über Megafon in tamilischer Sprache vor den drohenden Folgen der Abschiebeanhörung warnten, verweigern die allermeisten der betroffenen Flüchtlinge die Vorsprache bei den BotschaftsmitarbeiterInnen. Nur sieben der Vorgeladenen gehen hinein. Die Botschaft Sri Lankas kommt nie wieder zu einem solchen Termin nach München. – Im Oktober richtet sich der Blick der Karawane auf die Außengrenzen Europas. Der Bundesnachrichtendienst veranstaltet in Pullach ein Symposium und preist öffentlich die Bekämpfung irregulärer Migration mit nachrichtendienstlichen Mitteln an. Gemeinsam mit dem „Bundesverband Schleppen und Schleusen“ (www.schleuser.net) und „kein mensch ist illegal“ organisiert die Karawane eine Protestaktion und liefert den vom BND eingeladenen Journalisten die Fotos für ihre Artikel: „keine Spionage gegen Flüchtlinge“ lautet die Parole.“5
1 Mitteilungen der Humanistische Union 165 vom Januar 1999, 9.
2 Siehe „Eine besondere Freundschaft“.
3 Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 6.
4 A.a.O., 9.
5 A.a.O., 6 f.; siehe „Die Karawane hat für mich gekämpft und mein Leben gerettet“ von Adjoya Koffi.