Flusslandschaft 1999
Ressentiments
Schriftsteller Michael Molsner ist zum Faschingsende gediegen eingeladen und registriert beim abendlichen Fischessen Übereinstimmungen von Äußerungen Anwesender mit geistigen Haltun-
gen, die er von protofaschistischen Banden der frühen 20er Jahre in Bayern kennt. Es handelt sich hierbei um Ressentiments, die in der Mitte der Gesellschaft wabern: „Ätzende Kritik an den Politi-
kern der Republik, die nicht fürs Regieren qualifiziert, keine Fachleute seien (»Laienspieler«). Wut derer, die sich im Besitz von Herrschaftswissen wähnen, und Larmoyanz angesichts eigenen Machtverlustes nach demokratischen Wahlen. Fassungslosigkeit der im Fette Sitzenden gegenüber Lohnforderungen (»Anspruchsdenken«). Scharfe Wendung gegen Israel. Verbales Niedermachen von Widerstand gegen Diktatur, Militarismus, Imperialismus (»an Graf Stauffenberg nichts Gutes, gar nichts!«). Verachtung gegenüber angeblicher Verweichlichung der Jugend. Umwidmung mo-
derner westlicher Kultur, vor allem der amerikanischen in Barbarei. Aus alledem zu folgernde Un-
fähigkeit unserer gegenwärtigen Gesellschafts- und Staatsverfassung, die Aufgaben der Zukunft zu meistem, vor allem die globalen Verteilungskämpfe, die China uns aufnötigen werde (gelbe Ge-
fahr!). Hörte ich an diesem Tisch zusammenwachsen, was zusammengehört?“1
Die Vermutung, heftig geäußerte Ressentiments richten sich eigentlich vor allem gegen das Ande-
re, das Fremde in einem selbst, äußern nicht nur Psychologen.2
Seit alters verachten die Münchner die gscherten Hammel vom Land, die depperten und ungeho-
belten Bauernspitze, die entweder zur Wiesnzeit in die Stadt einfallen, auf Ämter oder Gerichte müssen oder als nicht selten alkoholisch abgefüllte Abgeordnete den Landtag bevölkern. Umge-
kehrt mag die Landbevölkerung auf gar keinen Fall die Stadt. Hier wohnen arrogante Besserwisser, die auf Kirche und Traditionen pfeifen. Die beidseitigen Ressentiments werden manchmal von Er-
eignissen bestätigt, die nicht einmal ein Kabarettist sich ausdenken mag, weil man ihm vorwirft, er würde überzeichnen.3
„18./19. September: An Münchner Schulen tauchen rassistische Flugblätter auf. Eins davon nennt sich ‚Antrag auf bundesdeutsches Asyl’ und simuliert einen Fragebogen. Einige Textbeispiele: ‚Wo-
her du kommen?’ – mögliche Antworten: ‚Polska, Romania, Russia, Albania, andere Land’. ‚Woher du wissen, dass Bundesrepublik Schlaraffenland?’ – ‚Von Opa, Bruder, Schwager, Vater, andere Mithäftling’. Auch die SchülerInnenzeitung Octopus berichtet von Auseinandersetzungen zwischen rechtsextremen und anderen SchülerInnen auf einer Faschingsfeier: ‚Im Verlauf des Abends kam es zu Pöbeleien und Rempeleien durch diese Gruppe. Die Situation verschärfte sich. Einzelne Gruppen bedrohten Schüler und Schülerinnen mit Naziparolen.’“4
1 Michael Molsner: „Abend mit Dinos“ in: Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft 4 vom 27. Februar 1999, 113.
2 Siehe „Ethnologische Betrachtungen“.
3 Siehe „Telefonsex mit Steuergeld“ von Karl Stankiewitz.