Flusslandschaft 2004
Zensur
Noch hält es den Künstler Flatz in München. Er hat Geduld, obwohl schon wieder eine Widrigkeit ins Haus steht. In die Krone der Kastanie vor seinem Haus auf der Praterinsel hat er einen gülde-
nen Wohnwagen appliziert; die Kunstwelt ist begeistert. Das Objekt nennt er „Belle Etage“, aber die Lokalbaukommission moniert Vorschriftswidrigkeit und Gefahr für allfällig vorbeiwandelnde Passanten, erhebt ein Zwangsgeld und warnt, wenn der Künstler nicht selbst das anstößige Objekt entferne, lasse sie entfernen. Flatz organisiert einen Kran und kommt der Behörde zuvor. Flatz
„ist keiner, der lospoltert, schaut in die Lücke im Baum und sagt: ‚Sowas ist mir in meinem ganzen Leben noch nie passiert.’ Aber natürlich regt es ihn auf, die ‚unrechtmäßige Zerstörung eines Kunstwerks’, die Engstirnigkeit der Behörden, das Sich-selber-auf-die-Schulterklopfen der kunst-
beflissenen Stadt München – ‚aber wenn es um einen geht, der nicht angepasst ist, herrscht Rigo-
rosität, Kompromisslosigkeit, Ignoranz.’ Flatz, in Kaftan und Fell-Clogs, zeigt Briefe, Mails mit Solidaritätsbekundungen, ‚Zur Hölle mit München’, hat einer geschrieben. Unten radelt ein Nach-
bar vorbei, Flatz ruft ihm das Neueste in der Causa Goldwagen von oben zu. ‚Ich drück die Dau-
men’, ruft es zurück. Stolz macht es ihn schon, dass täglich Anwohner, Menschen aus dem Viertel, stadtrundfahrende Touristen die Belle Etage bestaunten. Und aufgeben will er nicht, er hofft, sich juristisch durchzusetzen. Keine Lust mehr auf München? ‚Ist schon schön hier zu leben’, sagt er. ‚Aber der Prophet gilt wenig im eigenen Land.’ Kurze Pause. ‚Im eigenen Dorf.’“1
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Im Volkstheater in der Brienner Straße 50 wird „Fegefeuer in Ingolstadt“ von Marieluise Fleißer gespielt. Premiere ist der 25. Januar 2005. Dafür wirbt ein Plakat und ein Leporello mit dem Bild eines gekreuzigten Frosches. Nicht nur der Generalvikar des Erzbistums München-Freising, Ro-
bert Simon, auch der Chef der CSU-Stadtratsfraktion Hans Podiuk sprechen von Verunglimpfung des Christentums und von Blasphemie. Er findet es ungeheuerlich, dass ein von der Stadt Mün-
chen finanziertes Theater „dieser Verunglimpfung des Christentums Vorschub leistet“. Intendant Christian Stückl: „Das Plakatmotiv zu Marieluise Fleißers Stück ,Fegefeuer in Ingolstadt’ basiert auf einer Arbeit des 1997 verstorbenen Künstlers Martin Kippenberger. Die Holzskulptur aus dem Jahr 1990 war in München vom 27. Juni bis zum 14. September 2003 in der Ausstellung ,Grotesk!’ im Haus der Kunst zu sehen. Wir haben uns für dieses Plakatmotiv aus Gründen der inhaltlichen Korrelation zu Marieluise Fleißers Pubertätsdrama entschieden. Das Stück zeigt den körperlich deformierten Jugendlichen Roelle als eine Figur, die sich in ihrem religiösen Weltempfinden bis zu dem Grade verliert, dass sie sich selbst als Erlöserfigur imaginiert.“ Auf Druck der katholischen Kirche und auf Wunsch von Oberbürgermeister Ude wird das Plakat schließlich zurückgezogen.
1 Anne Goebel: „‚Belle Etage’ geräumt“ in Süddeutsche Zeitung vom 10. August 2004.
2 Privatsammlung