Flusslandschaft 2005

Armut

Pro Jahr gibt der größte Arbeigeberverband Deutschlands, Gesamtmetall, zehn Millionen Euro aus, um die Werbetrommel für seine „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ zu rühren. Diese Propagandamaschine bombardiert die Hirne mit der Botschaft, die Leute würden zu viel ver-
dienen, arbeiteten zu wenig, gingen zu früh in die Rente und das soziale Netz sei nicht mehr be-
zahlbar. Seltsam: Deutsche Unternehmen fahren Rekordgewinne ein, das Land, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, ist Exportweltmeister vor den USA und Japan, aber immer noch, so jammern Hans-Werner Sinn und sein Münchner ifo-Institut, seien die Arbeitskosten im Lande
viel zu hoch.

Am 3. Januar treten die sogenannten Hatz IV-Gesetze in Kraft, mit denen die Regierung „fördern und fordern“ will. Sie meint, „jede Arbeit ist zumutbar“, auch im Niedriglohnbereich, bei den „ICH-AGs“, bei Mini-Jobs und in Personalserviceagenturen. Das Ziel ist es, die Arbeitslosigkeit in Deutschland bis 2010 zu halbieren. Etwa 45.000 MüchnerInnen erhalten mit der Zusammenle-
gung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe jetzt entweder Arbeitslosengeld II, Sozialgeld oder Grund-
sicherung. Mit Angehörigen betrifft alleine dieser Teil der Neuregelung etwa 70.000 Menschen in München. Für den 3. Januar ist vor dem Arbeitsamt in der Kapuzinerstraße eine Protestkundge-
bung geplant. Ein ver.di-Mitglied beschreibt seine finanzielle Situation als Hartz IV-Empfänger.1

Der „Gnadenacker“, ein rund sechs Jahre bestehende, eigenfinanzierte Selbsthilfeprojekt für Obdachlose in der Nähe von Gronsdorf wird im Frühsommer kurz vor der Eröffnung der neben dem Gelände stattfindenden Bundesgartenschau (BUGA) geräumt. Grund für die Räumung ist, dass die Wagensiedlung der Obdachlosen das heile Bild der BUGA stört. Begründet wird die Räumung mit einem Verstoß gegen die baulichen Nutzungsbestimmungen. Das von den Obdach-
losen ordnungsgemäß von einer Privatperson gepachtete Grundstück weist im Bebauungsplan lediglich eine Nutzung als Wiesengrundstück ohne Zulassung für Festbauen aus. Um diese im Bebauungsplan festgeschriebene Nutzung durchzusetzen, wird zwangsgeräumt, nachdem Ver-
handlungen mit der Stadt scheiterten. Der Verein Die Ameise e.V., den Nichtsesshafte zu ihrer Interessenvertretung gegründet haben, versuchte zuvor mit den politisch Verantwortlichen ins Gespräch zu kommen. Vergeblich. Auch Proteste von vielen Menschen, unter ihnen Prominente wie Konstantin Wecker, fruchteten nichts.2 – Veronika Dimke und Dominik Lindner drehen über die Ereignisse einen Film „Ramma damma – Die Stadt hat uns obdachlos gemacht“. Sie schreiben: „Ein Bauwagenplatz widersteht sieben Jahre behördlichen Schikanen. Ein Lichtblick im reaktio-
nären München. Angesichts der Wohnungsnot empört die angekündigte Räumung nicht wenige. Ein tragikomischer Film über Bürokraten, Solidarität und widerspenstige Menschen die auf einer Barrikade einen Hubschraubereinsatz fordern. Der Film ‚Ramma Damma – Die Stadt hat uns obdachlos gemacht’ entstand als Nebenprodukt – und Abschluss – einer intensiven, wenn auch unter Zeitdruck leidenden Solidaritätskampagne. Die FilmemacherInnen begleiteten die ‚Ameisen’ vor, während und nach der Räumung, die sie in die Obdachlosigkeit bzw. in städtische ‚Unterkünf-
te’ führte. In 45 Minuten zeigt der Film den Acker und seine BewohnerInnen, die Räumung durch die Stadt München und was diese für die Menschen bedeutet.“3

In Zahlen ausgedrückt sind im Jahresdurchschnitt 2005 genau 84.017 Personen im gesamten Bezirk der Agentur für Arbeit München arbeitslos gemeldet, 15.284 bzw. 22,2 Prozent mehr als
im Jahr zuvor. Die Arbeitslosenquote auf Basis aller Erwerbspersonen erhöht sich von 5,9 im Jahr 2004 auf 7,2 Prozent im Jahr 2005. Das Sozialreferat gibt in seinen Regionalen Sozialberichten 2005 einen Überblick über die 13 Sozialregionen in München: www.muenchen.de/Rathaus/soz/sozplan/sozzahlen_archiv.html#mucsozial


1 Siehe „Leben mit Hartz IV?“.

2 Siehe www.dieameise-ev.de und „Offener Brief“ von Xaver Endter.

3 Dimke, Egger, Engl, Erb, Leinfelder. Kunstarkaden, München 2009.