Flusslandschaft 2006

Flüchtlinge

Zum Jahresende 2005 stellt die nationale Verteilstelle des Europäischen Flüchtlingsfonts (EFF) beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Unterstützung des Bayerischen Flüchtlingsrats in der Augsburgerstraße 13, 80337 München, ein. Es fehlen jetzt: die halbe Miete, das halbe Gehalt des Geschäftsführer-Gespanns, der halbe Infodienst und Initiativenrundbrief (Zirkulare für Mit-
glieder und FördererInnen) und das halbe Telefon, von geplanten und laufenden Aktionen und Projekten ganz zu schweigen. Der Fortbestand der Geschäftsstelle ist existentiell gefährdet. Öffent-
lichkeitsarbeit und Proteste bewirken, dass sich seit Februar viele neue UnterstützerInnen melden: Das Department of Volxvergnügen, das Freitags- und Mittwochskafé im ehemaligen Tröpferlbad, die WASG, das Wohnprojekt Felizenzell, die Gruppe BOLA sowie die KabarettistInnen Martina Ottmann, Faltsch-Wagoni, Maria Peschek und Luise Kinseher. Es weht jetzt ein frischer Wind in der Flüchtlingsarbeit. Im Juni erscheint die erste Ausgabe der neuen Zeitschrift „Hinterland“.1

„Am 1. April fährt ein Karawane-Reisebus aus München nach Dessau zur Gedenkdemonstration für den Asylbewerber Oury Jalloh aus Sierra Leone, der am 7. Januar 2005, an Händen und Füßen gefesselt, in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte. Die „Initiative im Gedenken an Oury Jalloh” kämpft gemeinsam mit Karawane-Gruppen und anderen für die Aufklärung der Umstände dieses grausamen Todes.“2

Am 2. Mai demonstrieren 800 bis 1.000 Menschen unter dem Motto „Hier geblieben“.3

„Am 13. Juli veranstaltet die Karawane gemeinsam mit der Verdi-Jugend einen Aktionstag gegen rassistische Arbeitsgesetze. Es gibt eine kleine Protestkundgebung vor der Zentralen Ausländer-
behörde München, die dafür berüchtigt ist, Flüchtlinge mit Arbeitsverboten zu drangsalieren, um sie zur „freiwilligen Ausreise” zu drängen. Der Protest richtet sich auch gegen den „nachrangigen Arbeitsmarktzugang”, der Flüchtlinge dazu zwingt, um die prekärsten Jobs zu konkurrieren, die nachweislich sonst keiner haben will.“4

„Proteste in bayrischen Flüchtlingslagern – In mehreren Flüchtlingslagern in Bayern, so in Mün-
chen, Landshut, Regensburg oder Neuburg an der Donau gibt es auch in diesem Jahr wieder Pro-
teste gegen die Lagerunterbringung. Arbeitsverbote und Zwangseinweisungen führen dazu, dass viele Flüchtlinge, die in eigenen Wohnungen gelebt haben und keine Sozialhilfe bezogen, wieder in Sammellager einziehen müssen. Die Lebensbedingungen in diesen Lagern sind häufig katastro-
phal. Die Versorgung erfolgt in Bayern durch Essenspakete, die zwei mal wöchentlich ausgegeben werden. Die Qualität der Lebensmittel ist oft schlecht, wer die Essensausgabe verpasst, geht in einigen Lagern leer aus. Die Lager sind zum Teil heruntergekommen, die Räume sind eng, die sanitären Einrichtungen sind häufig defekt. Flüchtlinge aus mehreren bayerischen Sammellagern haben deshalb Proteste und Boykott gegen die Essenslieferungen angekündigt. Vom 29. Juli bis zum 5. August 2006 wird eine Refugee Human Rights Tour durch verschiedene Städte in Bayern führen, auf der Flüchtlinge und Menschenrechtsorganisationen substantielle Verbesserungen der Lebenssituation von Flüchtlingen fordern werden.“5 Am 4. August findet eine Demonstration vor dem Innenministerium statt, am 5. August kommt es zur Schlussdemonstration.


Demonstration vor dem Innenministerium am 4. August

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Die Schlussdemonstration am 5. August

„Im Oktober decken Karawane, Flüchtlingsrat und „Lagerland”-Netzwerk auf, dass die äthiopische Regierung versucht, die Abschiebung von RegimegegnerInnen zu bewirken, um sie in Äthiopien zu bestrafen und einzukerkern. Die äthiopischen Botschaften bekam die Anweisung, gezielt „Heim-
reisepapiere” für Oppositionelle auszustellen. Betroffen davon ist auch der Neuburger „Lagerland”-Aktivist Debru E. Debrus Unterstützerkreis zieht alle Register, organisiert Pressearbeit und Beglei-
tung zu Behördengängen. Am 28. März 2007 kommt schließlich das Happy End: Nach monatelan-
ger Zitterpartie gewährt das Bundesamt Abschiebeschutz für Debru wegen Foltergefahr – ein Prä-
zedenzfall, der auch die Chancen anderer äthiopischer Flüchtlinge verbessert … Die Entscheidung über die Bleiberechtsregelung 2006 wird auf die Herbstkonferenz der Innenminister in Nürnberg vertagt – der nächste Fokus der Mobilisierung. Im Bayerischen Flüchtlingsrat entsteht das Bleibe-
rechtsbüro, mit dem die Karawane eng zusammenarbeitet. Durch gezielte Pressearbeit gelingt es, das Bleiberechtsthema breit in die Medien zu bringen. Am 16. November rollen zwei Busse aus München zur bundesweiten Bleiberechts-Demonstration nach Nürnberg. Das Motto: „Bleiberecht jetzt! Gegen soziale Ausgrenzung und Repression! Für ein Leben, das eine Perspektive bietet!”. Tausende Menschen ziehen zum Tagungsort der Innenminister, es ist die größte antirassistische Mobilisierung in Deutschland seit Jahren. Das Gesicht der Demo bestimmen MigrantInnen und Flüchtlinge. Als die Innenminister schließlich ihre Bleiberechtsregelung verabschieden, herrscht bei vielen die Hoffnung, nun ohne Angst vor Abschiebung in Deutschland bleiben zu können. Umso bitterer ist die Enttäuschung, denn unter das Bleiberecht fallen nur Personen, die seit min-
destens 8 Jahren in Deutschland leben. Für Familien mit Schulkindern liegt der erforderliche Mindestaufenthalt bei 6 Jahren. Weitere Hürden, wie Vorstrafen oder der Vorwurf mangelnder Mitwirkung an der eigenen Abschiebung, sorgen zusätzlich dafür, dass die meisten „Geduldeten” ausgeschlossen bleiben. Zudem ist die Bleiberechtsregelung nur ein einmaliger Gnadenakt für diejenigen, die im November 2006 schon ausreichend lange in Deutschland sind; einen Rechtsan-
spruch, bei Erreichen einer bestimmten Aufenthaltsdauer ins Bleiberecht nachzurutschen, gibt es nicht.“7

„21. November 2006: Felleke Bahirou Kum aus Nördlingen hat bereits zweimal seine Abschiebung nach Äthiopien verhindert, indem er sich weigerte, ins Flugzeug einzusteigen. Beim dritten Ver-
such fühlen sich die SachbearbeiterInnen des Landratsamtes Donauwörth durch unerwarteten Druck in Form von Protestfaxen, Anrufen und Pressenachfragen überfordert. Nachdem sein An-
walt einen Asylfolgeantrag gestellt hat, wird die Abschiebung ausgesetzt und Felleke kommt frei.“8

Europa macht die Grenzen dicht. Die Bundesrepublik schlug eine ganz Europa umfassende Grenz-
sicherung vor; seit 1999 wurde sie in verschiedenen europäischen Militärmanövern vorbereitet. – Am 1. Juli 2004 untersagte die Hafenverwaltung von Porto Empedokles in Sizilien der Cap Ana-
mur
die Einfahrt in den Hafen. Das Schiff hatte auf hoher See siebenunddreißig Flüchtlinge von einem untergehenden Schlauchboot gerettet. Nach drei Wochen zermürbender Verhandlungen fuhr der Kapitän in den Hafen ein, die Flüchtlinge wurden wenige Tage später abgeschoben, der Kapitän, der erste Offizier und der Leiter des Hilfskomitees Cap Anamur verhaftet und angeklagt. Unter dem Eindruck der Ereignisse schlug Innenminister Schily im Sommer 2004 vor, man möge doch die nordafrikanischen Staaten zur Abwehr von Flüchtlingen einbinden und dort Flüchtlings-
lager einrichten. Nach heftigen Protesten verschwand der Vorschlag wieder in einer Schublade. – 2005 entsteht die ganz Europa umfassende Grenzsicherung mit Sitz in Warschau: Frontex (fron-
tières extérieures). Seit Ende 2006 patrouillieren Frontex-Einheiten im Mittelmeer, das in den folgenden Jahren zum größten Friedhof unter freiem Himmel wird.9


1 Siehe www.fluechtlingsrat-bayern.de.

2 Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 34.

3 Siehe „‘Bleiberecht jetzt!’ – bis zu 1.000 fordern in München Regelung für geduldete Flüchtlinge“ und „hier geblieben“ von Andrea Naica-Loebell.

4 Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 34.

5 www.proasyl.de.

6 Fotos: Andrea Naica-Loebell.

7 Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 34 f.

8 A.a.O., 9.

9 Siehe www.frontex.antira.info/