Flusslandschaft 2009
Medien
„Wünschenswert wäre eine Zeitschrift, in der steht, was nicht geschehen ist.“1
„Wes’ Brot ich ess’, des’ Lied ich sing’.“ Diese Maxime beherrschte die Anzeigenblätter der „alten“ Bundesrepublik. Redaktionelle Beiträge mussten immer die Hürde einer vermeintlichen Zustim-
mung der Werbekunden nehmen. In jüngerer Zeit beginnen Redakteurinnen und Redakteure sich von diesen Restriktionen zu befreien. Sie werden mutig auch auf die Gefahr hin, einen Werbekun-
den zu verlieren. Oder ist das Risiko heutzutage nicht so groß? Stefanie Moser schreibt anlässlich einer Veranstaltung der Münchner Volkshochschule: „… Auch in München gibt es zahlreiche Ini-
tiativen von Jugendlichen, seien es spontane Verkehrs-Demos der Initiative ‚Critical Mass’ oder nächtliche Pflanzaktionen der ‚Garden Guerilla’ … Geht es um Streikvorbereitungen an Schulen, Bildungsdemos vor den Universitäten oder das Recht auf Skaten – die Jugendlichen melden sich lautstark zu Wort. Doch sie wollen sich immer weniger an Parteien binden, wichtiger sind ihnen direkte und unmittelbare Erfolge. Ein Grund, warum sich die Urbanauten, eine Gruppe junger Menschen, die sich mit dem öffentlichen Raum in München beschäftigen, fernab von Parteien organisieren. ‚Wir bevorzugen die kreative Art der Mitbestimmung’, sagt Benjamin David. ‚Mit unseren Aktionen wollen wir eine Bewusstseinsbildung bei den Bürgern schaffen.’ Über Lautspre-
cher machten die Urbanauten zum Beispiel auf die Videoüberwachung am Orleansplatz in Haid-
hausen aufmerksam. ‚Menschen zu vertreiben, die nicht ins Stadtbild passen – das fanden wir un-
möglich’, so David. Den Weg jenseits der Parteipolitik geht auch Fabian Bennewitz von der Schü-
lerinitiative München, einer Art Schülergewerkschaft, die die Rechte und Interessen von Schülern vertritt. Die Schülerinitiative plant bereits den nächsten Bildungsstreik am 17. Juni, bei dem Schü-
ler zusammen mit Studenten und anderen sozialen Gruppen bundesweit für eine bessere Bildungs-
politik demonstrieren. Wichtig sei, von außen auf politische Missstände einzuwirken, ‚wir brau-
chen radikalen Druck auf die Politik’, sagt Bennewitz … Mit der Stadt scheint es bislang keine Schwierigkeiten zu geben, im Gegenteil: ‚Die Stadtspitze ist froh, dass sich junge Menschen einmi-
schen und mitreden wollen’, sagt Johannes Trischier vom Münchner Jugendrat, der die Gründung der StadtschülerInnenvertretung erwirkte. ‚So ein Gremium ist in Deutschland einmalig’, und da-
rauf sei man stolz in München. Am Beispiel der StadtschülerInnenvertretung wird deutlich, wie neue Formen der politischen Mitwirkung entstehen können. Um sich engagieren zu wollen, sind nicht zwangsläufig Parteien notwendig. Attraktive Plattformen für Jugendliche sind längst geschaf-
fen. Fest steht: Die heutige Jugend ist nicht weniger engagiert als frühere Generationen. Sie ist an-
ders engagiert.“2
Wer sich gegen allgemein verbindliche Übereinkünfte stellt, wird zum Nestbeschmutzer. Er stellt lästige Fragen, die das Meinungskartell in seiner hegemonialen Deutungshoheit schon längst als abgehakt, erledigt, ein für alle mal beendet erklärt hat. Unter der Rubrik „Belästigungen“ schreibt Michael Sailer, ein unerschrockener, tapferer David, gegen die Goliaths der Medienimperien an. Gerade vor tabuisierten Themen macht er nicht Halt: „… Das ist zur Zeit wieder groß in Mode, das Herumhauen auf angeblichen und echten Linken, seit die Springerpresse ‚herausgefunden’ hat, dass nicht ihre faschistoide Hetze 1967 zum Mord an Benno Ohnesorg und der Radikalisierung der Studentenbewegung geführt habe, sondern dass hinter all dem die Stasi stecke. Dass das eine un-
verschämte Lüge ist, soll uns nicht kümmern; schlimmer ist, dass alle drauf reinfallen und nir-
gendwo zu lesen ist, der Karl-Heinz Kurras sei ein verlogener, hasserfüllter Spießer, skrupelloser Hierarchiefascho, durchgedrehter Hygienefanatiker und psychopathischer Waffennarr, dem es nicht reichte, im Auftrag westdeutscher Behörden ‚Lumpen’ hinzurichten (und der später bereute, dass er nicht ‚mindestens 18 Mann’ umgenietet hat), – nein, der wollte auch noch im Dienste der ostdeutschen Oberspießer ‚Verräter umbringen’, wurde deshalb SED-Mitglied und ist daher sogar für die SZ ein ‚Kommunist’. Dass der Kurras so wenig Kommunist ist und je war wie ich Mitglied des Ku-Klux-Klan, ist nicht so wichtig, weil das die Kampagnenschmiede selber wissen (sofern sie überhaupt ahnen, dass Kommunismus keine Geschlechtskrankheit ist). Nein, das Schlimmste ist, mit welch widerwärtiger Breitmaul-Selbstzufriedenheit die Lackaffen von der Springerpresse und das ‚neokonservative’ Pack von Schnöselwürsten sich nun dem Endsieg nahe wähnen, weil nicht polizeistaatliche Repression, kotwurstwarmer Altfaschismus und eine jahrelange hysterische Hetzkampagne von ‚Bild’ und ‚Welt’, die darauf abzielte, das Lumpenpack (Zitat!) ‚auszumerzen’, schuld an den Umtrieben der 60er Jahre waren, auch nicht dass in zwei Prozessen gegen den Kur-
ras von Polizisten und Vorgesetzten gelogen, vertuscht und betrogen wurde, dass sich die Balken heute noch schütteln, dass Zeugen erpresst, Beweismittel vernichtet und bis in oberste Instanzen hinein Methoden angewandt wurden, die man mit dem Naziregime untergegangen geglaubt hatte. Sondern: ein perfider Plan der Stasi (die übrigens den Mord im Gegensatz zu westdeutschen Ge-
richten für ‚ein Verbrechen’ hielt). Ergo: war die ganze Studentenbewegung und alles linke danach (und vorher sowieso) ein blöder Irrtum aufgrund eines fiesen Tricks. Reingefallen, ätsch! Hättet ihr euch den Schmarrn gespart, so lautet das Fazit der Herrenmenschen, dann wäre Deutschland ohne Bruch und auf ewig unser demokratisches, liberales, weltoffenes Paradies geblieben, und deshalb haltet ihr Linken jetzt endlich das Maul und lasst uns durchregieren! Gegen derartig drei-
ste Geschichtsfälschung – als deren Galionsfigur ausgerechnet ein ehemals angeblich Linker na-
mens Thomas Schmid von der ‚Welt’ agiert, hat selbst ein Graeter, selbst ein Strauß noch mensch-
liche Größe. Übrigens war nicht Benno Ohnesorg das erste Opfer wildgewordener Polizisten in Nachkriegsdeutschland, sondern der Neuaubinger Schlosser Philipp Müller, der am 11. Mai 1952 in Essen an einer Demonstration gegen die Wiederbewaffnung teilnahm, wobei die Polizei nach ver-
geblichem Schlagstockeinsatz mit Maschinenpistolen in die Menge feuerte. Seine Erschießung war einer der Gründe, weshalb eine gewisse Ulrike Meinhof die BRD der Altnazis und Neospießer nicht mehr ganz so toll fand … Dass Müller Kommunist war und in die DDR übersiedeln wollte, haben wir uns schon gedacht. Aber was ist mit den Polizisten, die ihn umgebracht und zwei andere le-
bensgefährlich verletzt haben? Dürfen wir bitte mal deren Stasiakten einsehen?“3 Es gibt Zeitge-
nossen, die sich in münchen vor allem wegen der Kolumne Sailers besorgen.
12. September: Dominik Brunner ist ein Held. „Er starb nach einer Schlägerei mit zwei Jugendli-
chen, die wiederum das Gegenteil von sozial anerkannt und integriert darstellten. Monatelang veröffentlichten Medien Heldengeschichten über Brunner, der angeblich andere Kinder zu schüt-
zen versuchte.“ Dabei ist die „Geschichte, wie sie in den Medien zu finden war, … selbst bei un-
mittelbaren TatzeugInnen bereits als empfundene Wahrheit stärker eingebrannt als das Gesehene auf dem Bahnsteig.“4
Am 8. November verleiht die Georg-Elser-Initiative München im Alten Rathaussaal an Beate Klarsfeld den Georg-Elser-Preis. Laudator ist Günter Wallraff. Außerdem reden u.a. Dr. Klaus Hahnzog, Exbürgermeister und bayrischer Verfassungsrichter, die Stadträte Siegfried Benker und Marian Offmann, die ehemalige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau Dr. Barbara Distel und Petra Finsterle vom Club Voltaire. Für die Musik sind Michaela Dietl mit ihren siebzehn „Quet-
schenweibern“ und Sepp Raith mit seiner Gitarre zuständig. In der Presse steht darüber und über die weiteren Veranstaltungen so gut wie nichts. Hella Schlumberger fragt nach.5
1 Manfred Ach, Auf Sendung. Botschaften vom Mönch, München und Wien 2009, 5057.
2 Stefanie Moser: „Engagement mal anders – Wie Münchner Jugendliche auf neue Art Druck machen“ In: Münchner Samstagsblatt 18 vom 2. Mai 2009, 1 ff.
3 in münchen 13 vom 11. Juni 2009, 82.
4 „Fallbeispiel: Dominik Brunner“ in: https://www.projektwerkstatt.de/index.php?domain_id=1&p=18334
5 Siehe „An die Chefredaktionen der Münchner Medien“ von Hella Schlumberger.