Flusslandschaft 2010

Gedenken

Am 19. Januar beschließt der Bauausschuss des Stadtrats die Aufstellung eines Denkmals für Kurt Eisner. Nachdem sich eine Jury für Rotraut Fischers Entwurf ausgesprochen hat, dessen zentrale Aussage Eisners „Jedes Menschenleben soll heilig sein“ zitiert, kommt es zu Protesten, die eine „Entpolitisierung“ der Eisnerschen Biographie befürchten.1

Sonntag, 2. Mai: Ab 9.00 Uhr finden die Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau statt. 12.30 Uhr: Gedenkstunde am ehemaligen „SS-Schießplatz“ Hebertshausen (Friedensweg). Seit 1985 erinnert die Initiative „Jahrestag der Befreiung“ an den „Kommissarbefehl“, der die Grundlage dafür war, dass von 1941 bis 1944 auf diesem Platz über viertausend sowjetische Kriegsgefangene erschossen wurden.

Seit 2008 tagt der Wanderstammtisch „Bier und Revolution“. Ob er allerdings einen Aufruhr auslöst, bleibt fraglich.2

Seit Jahren geht der Streit um die Verlegung von „Stolpersteinen“ auf öffentlichem Grund. Gunter Demnigs Messingsteine erinnern an verschleppte und ermordete Opfer des Naziregimes auf den wegen vor deren ehemaligen Wohnstätten und sind in vielen deutschen Städten und Gemeinden
zu finden. Nur in München hat der Stadtrat ein Verbot der „Stolpersteine“ beschlossen. Nun versu-
chen Sozialdemokraten beim Parteitag einen Meinungswandel herbeizuführen, der aber mit bo-
denlosen Behauptungen abgeschmettert wird. Reiner Bernstein protestiert.3 Schließlich beginnt in einer Sendung der ARD ein neuer Anlauf, das Münchner Verbot zu thematisieren.4

Am 21. September findet im Münchner Stadtmuseum die Veranstaltung „Nur eine Fußnote der Ge-
schichte? – Die Erinnerung an das Oktoberfestattentat“ statt. Es diskutieren Prof. Dr. Herta Däub-
ler-Gmelin (Bundesministerin der Justiz a.D.), Werner Dietrich (Historiker, Vertreter von Atten-
tatsopfern), Dr. Michael Kohlstruck (Politikwissenschaftler) und Prof. Dr. Günter H. Seidler (Psy-
chotraumatologe). Die Moderation übernimmt der Journalist und Politikwissenschaftler Thieß Marsen. Die Diskutanten auf dem Podium sind sich einig: Obwohl die polizeilichen Ermittlungen längst abgeschlossen sind, gibt es auch heute noch offene Fragen zu den Hintergründen des Atten-
tats vom September 1980. Sie kreisen immer wieder um eventuelle politische Motive der Tat, die Alleintäterschaft des Attentäters und mögliche Drahtzieher aus rechtsextremistischen Kreisen. Die Diskutanten fordern die Wiederaufnahme der Untersuchungen und sind sich hier mit allen Anwe-
senden im Publikum einig. Da meldet sich Erwin Brandl zu Wort. Er meint, die Diskussion sei bis jetzt zu kurz gelaufen. Er wolle, dass das Wiesn-Attentat in größerem Zusammenhang gesehen werde. Er erinnert an das Bombenattentat in Bologna vom 2. August 1980, bei dem 85 Menschen getötet und über 200 verletzt worden sind. Bekannt sei inzwischen, dass der NATO-Geheimbund Gladio Stay-behind dieses Attentat durchgeführt hat, um es den Anarchisten in die Schuhe zu schieben und dann in einer fragilen Situation eine Militärdiktatur errichten zu können.5 Auch Franz Josef Strauß habe nach dem Wiesn-Attentat davon gesprochen, dass hier „Linksextremisten“ am Werk gewesen seien. Mehrmals wird Brandl dazu aufgefordert, kürzer zu sprechen, und schließlich wird ihm das Wort entzogen. Die meisten im Publikum sind darüber froh. Sie wollen sich nicht konfrontieren lassen mit Ausführungen, die sie als so ungeheuerlich empfinden, dass diese deshalb nicht wahr sein können. Ein Besucher der Veranstaltung meint, Verschwörungs-
theorien hätten hier nichts verloren. Als alle das Stadtmuseum verlassen, sagt Brandl zum Verfas-
ser dieser Zeilen, so eine Veranstaltung, in der nur gesagt werde, was sowieso alle wissen, und in der von Anfang an sich alle einig sind, sei eigentlich überflüssig.


1 Vgl. Münchner Lokalberichte 3 vom 4. Februar 2010, 2.

2 Siehe „Mund auf statt mundtot!“ von Bernd Oswald.

3 Siehe „Sehr geehrter Herr Reissl“ von Reiner Bernstein.

4 Siehe „‚Stolpersteine’ in der ‚Lindenstraße’“.

5 Brandl bezieht sich dabei auf Leo A. Müllers Buch „Gladio – das Erbe des Kalten Krieges. Der NATO-Geheimbund und seine deutschen Vorläufer“ (rororo-Taschenbuch 1991).