Materialien 2010
Mund auf statt mundtot
München, die beschauliche Stadt rundum zufriedener Bürger? Von wegen.
Hier wimmelt es von Revoluzzern! BISS zeigt zehn Widerstandsnester.
AufgeMUCkt gegen den Flughafen München
Ziel: Keine dritte Startbahn am Münchner Flughafen
Was sie sagen:
Hartmut Binner, Sprecher:
„Die dritte Startbahn ist nicht notwendig, weil die Flugbewegungen in den letzten beiden Jahren um 20 Prozent zurückgegangen sind. Der enorme Lärmpegel von bis zu 80 Dezibel sorgt für Schlafstörungen und begünstigt Krebs. Politikern kann man mit Betroffenheit aber nicht kommen, die sagen dann: ,Ja schon, aber …’ Jeder Monat, in dem die dritte Startbahn nicht da ist, bringt uns unserem Ziel näher. Denn auch in Bayern wird man in den nächsten Jahren an den Klimawandel denken und weniger fliegen. Dieser Zeitenwandel wird auch in den Köpfen der Politiker Einzug halten.“
Was dahintersteckt:
Es geht den Startbahngegnern natürlich vor allem um ihre Lebensqualität. Das ist bei einem so großen Projekt wie einer Flughafenerweiterung nachvollziehbar. Mit dem Klimawandel haben sie ein gewichtiges Argument auf ihrer Seite.
Erfolgsaussicht:
Einer der größten Proteste im ganzen Land: AufgeMUCkt hat mehr als 70 Mitgliedsorganisationen, die über 60.000 Einwendungen der Bürger vorgebracht haben. Zum Planfeststellungsbeschluss wird es wohl trotzdem kommen. Alle Beteiligten stellen sich auf einen langen Rechtsstreit ein. Die Zeit könnte für die Startbahngegner spielen.
Volksbegehren Nichtraucherschutz
Ziel: Absolutes Rauchverbot im öffentlichen Raum
Was sie sagen:
Sebastian Frankenberger, Organisator des Volksbegehrens:
„Uns geht es um einen einheitlichen Gesundheitsschutz. Der bayerische Grundsatz ,Leben und leben lassen’ muss überall in der Gastronomie gelten. Wir wollen den Leuten bis zum Volksentscheid am 4. Juli klarmachen, dass die maßgeblichen Gegner des absoluten Rauchverbots Wirtschaftslobbyisten sind, die ihren Umsatz hoch halten wollen. Ich bin gespannt, wie sich die CSU beim Volksentscheid verhält. Ich habe von vielen Kommunalpolitikern ein positives Feedback bekommen.“
Was dahintersteckt:
Natürlich geht es in erster Linie um den Nichtraucherschutz. Gleichzeitig aber auch darum, der CSU eins auszuwischen. Die hatte 2008 ja schon ein strenges Rauchverbot verabschiedet, es 2009 aber, auch auf Druck des neuen Koalitionspartners FDP, wieder aufgeweicht. Paradox: Jetzt ist die CSU gegen einen Volksentscheid, der quasi ihr ursprüngliches Gesetz wiederherstellen will. Initiator Frankenberger ist bei der ödp, aber auch SPD und Grüne sind dafür.
Erfolgsaussicht:
Das Volksbegehren war das erfolgreichste in der bayerischen Geschichte. Und einer Studie zufolge sind 76 Prozent der Bayern Nichtraucher. Gute Voraussetzungen. Jetzt fragt sich nur, wer seine Anhänger besser mobilisiert: die Nichtraucher oder die Wirtshaus- und Tabaklobby.
München Sozial
Ziel: Keine Kürzungen im Sozialbudget der Stadt München
Was sie sagen:
Norbert Huber, Sprecher von München Sozial:
„Wir haben uns nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 gegründet, um deutlich zu machen: Die staatlichen Bürgschaften für die Finanzbranche dürfen nicht über Einsparungen im Sozialbereich finanziert werden. Das Krisenmanagement darf nicht auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen werden. Die Stadt München hat das bislang beherzigt – und deswegen werden wir ihr das Qualitätssiegel ,soziale Stadt’ verleihen. Aber wie beim TÜV werden wir alle zwei Jahre überprüfen, ob die Bedingungen weiterhin gegeben sind.“
Was dahintersteckt:
Bereits 49 Sozial-, Jugend- und Wohlfahrtsverbände haben sich dem Bündnis angeschlossen, das Gros der sozialen Szene Münchens. Das Bündnis setzt auf den Dialog mit dem Oberbürgermeister. In den meisten Punkten ist man d’accord oder hat gemeinsame Forderungen gegenüber Land und Bund.
Erfolgsaussicht:
Momentan haben sich das Bündnis und die Stadt arrangiert, aber was passiert, wenn die Einbußen bei den städtischen Gewerbe- und Einkommensteuereinnahmen nach und nach den Stadtsäckel leeren? Dann könnten hundertprozentige Kindergartenversorgung, kostenlose Bildungsangebote und gesundheitliche Präventionsmaßnahmen dem Rotstift zum Opfer fallen.
Bier und Revolution
Ziel: Aufklärung im linksintellektuellen Bereich
Was sie sagen:
Ruth Oppl und Katrin Sorko, Organisatorinnen des Stammtischs:
„Angefangen hat alles im November 2008 mit einem Wanderstammtisch zum Thema ,90 Jahre Räterevolution in München’. Wir haben nur mit 20 Leuten gerechnet, es kamen aber bis zu 80. Es hat sich ein harter Kern von 15 Leuten herauskristallisiert, die politisch stark interessiert, aber nicht organisiert sind. Unser Stammtisch findet künftig im ,Wirtshaus Laab’ statt, unsere Themen kommen aus dem aufklärerischen Bereich: Das kann die marxistische Philosophie von Antonio Gramsci sein, das Anarchiekonzept von Oskar Maria Graf oder die wirtschaftlich prekäre Situation von Freiberuflern. Weil wir im Wirtshaus tagen, bringen wir die Revolution dahin zurück, wo sie angefangen hat: an den Stammtisch.“
Was dahintersteckt:
Das Motto klingt revolutionärer, als es ist: Ein Teil des linksintellektuellen Milieus pflegt in geselliger, bierseliger Runde die gemeinsame Weltanschauung. Konkrete Umstürze oder Staatsstreiche sind nicht geplant.
Erfolgsaussicht:
Die beiden Damen müssen sich immer wieder was Neues einfallen lassen, um ihre Klientel bei Laune zu halten.
Nolympia
Ziel: Keine Olympischen Winterspiele 2018 in München
Was sie sagen:
Christian Hierneis, Mitglied des Landesvorstands des Bund Naturschutz in Bayern e.V. und Nolympia-Aktivist:
„Die Olympischen Winterspiele können nicht nachhaltig sein. Ökologisch, ökonomisch und sozial bringen sie keinen Mehrwert. Für den Bau von Skipisten, Loipen und Parkplätzen wird die Natur zerstört. Bislang haben alle Ausrichterstädte von Winterspielen Verluste gemacht, nur das Internationale Olympische Komitee (IOC) verdient Milliarden. Auch touristisch bringen die Spiele keinen Mehrwert: Für Wintersport interessieren sich, vor allem außerhalb Bayerns, weit weniger Menschen als für eine Fußball-WM. 27 Tage Winterspiele – die Paralympics mitgerechnet – würden eine zerstörte Landschaft und leere Stadtsäckel bedeuten.“
Was dahintersteckt:
Das Nolympia-Bündnis hat sehr grundsätzliche Vorbehalte gegen sportliche Megaevents und die dahinter stehende Kommerzialisierung. Viele seiner 18 Gründe gegen Olympia drehen sich um Klimawandel und Naturzerstörung, die Hauptträger sind Umweltschützer. Es ist aber kein Sponti-Protest, sondern durch die Arbeit der Gesellschaft für ökologische Forschung untermauert.
Erfolgsaussicht:
Gar nicht so schlecht. München, Garmisch-Partenkirchen und Oberammergau werden zwar die Bewerbung aufrechterhalten, aber das IOC hat es gar nicht gern, wenn es in einer Bewerberstadt hörbaren Widerstand gibt. Das musste auch schon Berlin bei seiner Bewerbung für die Sommerspiele 2000 erfahren.
Freunde des Sechzger Stadions
Ziel: Rückkehr der Profis vom TSV 1860 ins Grünwalder Stadion
Was sie sagen:
Roman Beer, 1. Vorsitzender:
„Das Sechzger Stadion erinnert an die großen Erfolge der Löwen. Seit 100 Jahren ist es die Heimat des Vereins, mitten in der Stadt. Bei den Spielbesuchen geht es um das Gemeinschaftserlebnis: erst das Spiel im zweiten Wohnzimmer, dann zu Fuß in eine nahe Kneipe. Ich verpasse kein Spiel der Sechzger-Amateure, und selbst mit nur 1.000 Leuten im Grünwalder ist mehr Stimmung als bei manchen Spielen mit 20.000 oder 30.000 in der Allianz Arena. Immerhin bleibt das Stadion jetzt für mindestens 20 Jahre erhalten, das ist für uns auch eine Art emotionaler Denkmalschutz.“
Was dahintersteckt:
Die Löwen-Fans sehnen sich nach einer Rückkehr in ihr altes identitätsstiftendes Stadion. Gerade hat die Stadt den Verein mit seinen Umbauplänen abblitzen lassen. Neben dem emotionalen Aspekt gibt es noch einen finanziellen: Der TSV 1860 kann sich als chronisch klammer Zweitligist die Miete in der Allianz Arena des FC Bayern nicht leisten – und will diese Schmach so schnell wie möglich loswerden.
Erfolgsaussicht:
Die Löwen müssen sich glücklich schätzen, wenn sie ins ebenfalls ungeliebte Olympiastadion umziehen dürfen. Dort ist es zwar so gemütlich wie in einer zugigen Bahnhofsunterführung, aber wenigstens eine finanzielle Erleichterung wäre es. Die Stadt stellt sich bei sämtlichen Umbauplänen für das Grünwalder Stadion quer. Aber der Löwen-Fan wäre nicht Löwen-Fan, wenn er sich nicht doch an die Hoffnung klammern würde – so aussichtslos sie auch sein mag.
Front Deutscher Äpfel
Ziel: Neonazis veräppeln
Was sie sagen:
Sandro Odak, Leiter Gau München:
„Die Front Deutscher Äpfel ist die einzig wahre nationale Kraft in diesem schönen Land. Neben der Front gibt es zwar weitere pseudonationale Splitterkräfte in Kleinstgruppen, namentlich die NPD, die DVU und einen kümmerlichen Rest an Republikanern, aber diesen sollte man kein Vertrauen schenken! Nur die Front kann einen charismatischen, wortgewandten und zugleich wohlriechenden Führer vorweisen. Mit Alf Thum an unserer Spitze kann Deutschland rechtes Fallobst von den Straßen kehren, Südfrüchte in die Schranken weisen und wieder aufblühen wie ein Apfelbaum. Heil Boskop!“
Was dahintersteckt:
Die Front Deutscher Äpfel ahmt in Rhetorik und Auftreten die NPD nach, um sie so lächerlich zu machen. Der Apfel ist eine Anspielung auf den sächsischen NPD-Vorsitzenden Holger Apfel, der nicht nur im Landtag immer wieder für Eklats sorgt („Bomben-Holocaust“).
Erfolgsaussicht:
Ein Spiel mit dem Feuer: Manche Beobachter verstehen die Satire auf den ersten Blick nicht. Dennoch künstlerisch wertvoll.
Münchner Friedensbündnis
Ziel: Friede auf Erden
Was sie sagen:
Rosemarie Wechsler, Pax-Christi-Kontaktfrau:
„Im Münchner Friedensbündnis finden sich Gruppen und Initiativen zusammen, die sich für die Ziele Frieden und Gerechtigkeit in der Welt einsetzen. Wir wollen aber nicht nur protestieren und Forderungen stellen, sondern auch gewaltfreie Lösungen aufzeigen. Das tun wir jedes Jahr auf unserer Friedenskonferenz im Vorfeld zur sogenannten Sicherheitskonferenz. Damit Gehör zu finden ist aber nicht so leicht, denn Krieg ist immer spektakulärer als ein vermiedener Konflikt.“
Was dahintersteckt:
15 unterschiedliche Gruppierungen, von kleinen lokalen Bündnissen wie den Truderinger Frauen für Frieden und Abrüstung über die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes bis hin zu Regionalgruppen von international bekannten Organisationen wie den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkriegs. So unterschiedlich der Hintergrund, so lose der Zusammenschluss, so groß das Ziel: Frieden schaffen ohne Waffen.
Erfolgsaussicht:
Da das Bündnis lokal agiert und die deutsche Friedensbewegung keinen Dachverband hat, sind die Chancen, von den Politikern gehört zu werden, nicht gerade riesig. Immerhin ist OB Christian Ude Mitglied der Mayors for Peace geworden. Außerdem hofft das Friedensbündnis, mit seiner Argumentation zur bundesweiten Skepsis gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr beigetragen zu haben.
Bund für Geistesfreiheit
Ziel: Eine wirklich konsequente Trennung von Staat und Kirche
Was sie sagen:
Assunta Tammelleo, Vorsitzende:
„Der BfG kämpft für eine Trennung;on Staat und Kirche. Die Religionsfreiheit ist in Deutschland nicht so konsequent umgesetzt wie die Pressefreiheit oder die Kunstfreiheit. Das sieht man am Einzug der Kirchensteuer – oder am Tanzverbot an christlichen Feiertagen: Selbst ein gläubiger Mensch kann einsehen, dass ich an einem Tag, der ihm heilig ist, etwas anderes machen möchte, zum Beispiel tanzen. Jeder soll glauben, was er mag, aber keine Religion sollte Andersgläubigen mit staatlicher Hilfe ihren Glauben aufdrängen.“
Was dahintersteckt:
Der Bund für Geistesfreiheit orientiert sich an Aufklärung und Humanismus. Was trocken klingt, ist in der Praxis oft recht lebendig: Der Münchner BfG hat einen Gottlosenstammtisch ins Leben gerufen und protestiert gegen das Tanzverbot an Feiertagen nach dem Motto „Heidenspaß statt Höllenqual“. Als Protest gegen den auch aus Steuermitteln finanzierten Ökumenischen Kirchentag inszenierte der BfG eine „Christihimmelfahrtskommando“-Prozession durch die Münchner Innenstadt.
Erfolgsaussicht:
Parteipolitisch steht das Ansinnen auf verlorenem Posten. Gut Ding will eben Weile haben.
Contra Schießanlage
Ziel: Keine Erweiterung der Schießanlage im Forstenrieder Park
Was sie sagen:
Heinz Kuhnert, Sprecher der Bürgerinitiative Forstenrieder Park ohne Schießanlage:
„Die Schießanlage der Hubertus-Schützen befindet sich in einem reinen Wohngebiet in einer Großstadt. Als die Anlage 1924 errichtet wurde, hat noch niemand da gewohnt. Heutzutage ist so etwas völlig instinktlos und ein Anachronismus. Sollten der Umbau und die Ausdehnung der Schießzeiten genehmigt werden, wäre das ein Ärgernis für Jahrzehnte. Damit findet sich kein Mensch ab. Wir verlangen eine komplette fugendichte Einhausung der Schießanlage, denn wir wollen nichts mehr hören. So ist das!“
Was dahintersteckt:
Die Bürgerinitiative hat sich natürlich aus Eigennutz gegründet, mit einem klaren Feindbild: die geplante „Monster-Schießanlage“ der Hubertus-Schützen. Den Anwohnern geht es also um die Wahrung ihrer Lebensqualität, den Schützen um die Pflege ihrer Tradition.
Erfolgsaussicht:
Es bestehen tatsächlich gute Chancen, den großen Ausbau der Schießanlage zu verhindern. Als sogenannte Schwerpunktanlage ist das Projekt beim Umweltministerium schon durchgefallen. Gut möglich, dass am Ende ein Kompromiss steht: Die Anlage wird modernisiert und saniert. Ob und wie stark die Schießzeiten ausgeweitet werden, hängt weitgehend von der Schallisolierung ab.
Bernd Oswald
Wie man online Proteste organisiert, lesen Sie auf www.biss-magazin.de/protest.
Biss. Bürger in sozialen Schwierigkeiten vom Juni 2010, 8 ff.